Kanzlergarten mit Hubschrauber: Tausende Bürger haben am Wochenende beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung auch das Kanzleramt anschauen können – allerdings nur die beiden unteren Etagen. Foto: dpa

Das Bundeskanzleramt in Berlin ist der Ort, um den es bei der Bundestagswahl in knapp vier Wochen letztlich geht. Gut 500 Mitarbeiter sind damit beschäftigt, den Regierungsapparat am Laufen zu halten.

Berlin - Sie hat geflucht damals, als sie von der Sparkasse in die Waschmaschine umziehen musste. Die Sekretärin, die durch die pastellgrünen Flure des Kanzleramtes führt, erzählt, wie sie schon zu Bonner Zeiten in der Regierungszentrale arbeitete, der Kanzler Helmut Schmidt einst den „Charme einer rheinischen Sparkasse“ attestierte. Nun, 2001 unter Kanzler Gerhard Schröder, musste sie nach Berlin übersiedeln. In ein Bauwerk, das wegen der trommelartigen Fensterfront schnell „Waschmaschine“ genannt wurde. Viel größer war es, mit langen Wegen – die vielen Hundert Meter zur Kantine schmecken den Mitarbeitern bis heute nicht. Trotzdem hat die Assistentin eines Regierungsbeamten ihren Frieden gemacht mit dem Haus. „Die Größe hat schon Vorteile – Fachebene und Führungsriege können ungestört arbeiten und bekommen von den vielen Besuchergruppen nicht einmal etwas mit.“

Geklotzt, nicht gekleckert hat Deutschland im Spreebogen mit dem H-förmigen Koloss. Sieben Hektar umfasst das Gelände, 36 Meter ragt der Bau in den Himmel über Berlin, die gut 500 Mitarbeiter können sich auf einer Nutzfläche von 2,5 Hektar austoben, allein das 142 Quadratmeter große Kanzlerbüro im siebten Stock hat die Ausmaße einer üppigen Familienwohnung. Darüber, dass eine Abteilung wegen Platzmangels schon ausgelagert wurde, rümpft manch einer die Nase – bei so viel Großzügigkeit. Die Architekten Charlotte Frank und Axel Schultes bezeichneten ihr Werk gar als „eine Art Hafterlass nach den Perioden architektonischer Selbstbestrafung“. Längst reiben sich nicht mehr so viele am größeren, selbstbewussteren Deutschland.

Tiefgaragencharme unten, Transparenz oben

Im Eingangsbereich lebt die gern piefig genannte alte Bundesrepublik fort. Niedrige Decken und ein dunkles Foyer empfangen den Besucher. Von „Krankenhausatmosphäre“ spricht eine Mitarbeiterin, die wie fast alle Kanzleramtsangestellten nicht namentlich zitiert werden darf, vom „Charme einer Tiefgarage“ ein anderer. Je weiter die kreisrunden Aufzüge den Gast aber nach oben führen, desto mehr Licht und Offenheit erwarten ihn. Transparenz lautet, wenigstens architektonisch, das Motto der Regierungsarbeit. Ganz oben, rund um die „Skylobby“, findet sich nicht nur der wichtigste Arbeitsplatz der Republik, sondern auch einer der schönsten.

Um ihn geht es letztlich bei der Bundestagswahl in knapp vier Wochen. Natürlich heißt es nicht Bundeskanzlerwahl, aber die neu gewählten Parlamentarier bestimmen eben denjenigen, der in den nächsten vier Jahren, ausgestattet mit der Richtlinienkompetenz für das Regierungshandeln, in der Willy-Brandt-Straße 1 residiert. Bleibt Angela Merkel? Zieht Martin Schulz ein?

Die Staatsgäste, die nach dem militärischen Empfang im Ehrenhof auf die Terrasse geführt werden, sind regelmäßig beeindruckt. Rechts der Tiergarten, links der Hauptbahnhof, geradeaus das Reichstagsgebäude und die Abgeordnetenbüros im Paul-Löbe-Haus, das zusammen mit dem Kanzleramt Teil vom „Band des Bundes“ ist. Auf der Leerfläche dazwischen war ein „Bürgerforum“ vorgesehen – und obwohl es, auch wegen Sicherheitsbedenken nach dem 11. September, nie realisiert wurde, meint einer aus Merkels Mannschaft, sie präsentiere Besuchern, speziell den weniger demokratischen, das Gesamtensemble gern als „Showcase der Demokratie“. Der Blick aus ihrem Büro hinüber zum Reichstag, so die Kanzlerin einmal, „mahnt mich immer, dass der eigentliche Gesetzgeber das Parlament ist“.

Einerseits. Andererseits wird im Kanzleramt viel vorentschieden. Bevor Gesetzentwürfe überhaupt die Ministerien verlassen, haben die sechs Abteilungen des Kanzleramts, die spiegelbildlich alle Ressorts der Regierung abbilden, ein Auge darauf geworfen. Gibt es Streit über die Gesetzesvorlage eines Hauses, leitet das Kanzleramt die Ressortabstimmung, schlägt Lösungen vor und setzt sie durch, oft schon unter Beteiligung der Regierungsfraktionen. Erst dann wird der Entwurf in der mittwöchlichen Kabinettssitzung auf der sechsten Etage beschlossen – und häufig im Parlament kaum noch groß verändert.

Als Frühwarnsystem versteht sich die Behörde, an dessen Spitze der Kanzleramtsminister steht, der Kanzler oder Kanzlerin den Rücken freihalten und Entscheidungen vorbereiten soll. Zwei Mal die Woche, montags und donnerstags, tagen die Abteilungsleiter und fragen sich, wo es ein Problem geben könnte und wovon die Regierungschefin wissen muss. Ein gewisses Eigenleben führt das Kanzleramt aber auch. Jetzt, da kurz vor der Wahl keine Gesetzentwürfe mehr zu erarbeiten sind, bereitet die eine oder andere Abteilung nicht nur vor, wie sich die Wahlversprechen des späteren Wahlsiegers umsetzen ließen, sondern entwickelt auch eigene Vorstellungen für die Koalitionsverhandlungen.

Es sind nicht die schlechtesten Beamten, die hier Dienst tun. Bis auf wenige Ausnahmen sind sie von den Ministerien entliehen. Nicht immer geben diese ihre besten Mitarbeiter gern her, aber wenn das Kanzleramt ruft, können sie sich auch nicht immer sperren. „Das ist schon eine gewisse Bestenauslese hier“, sagt einer der Abteilungsleiter: „Ich muss mich hier nicht damit befassen, wie ich meine Mitarbeiter motiviere.“ Eher tritt das gegenteilige Problem auf, wie ein Kollege nur halb im Scherz berichtet: „Man muss sie teilweise prügeln, dass sie nach Hause gehen.“

Eine Abteilung macht gar keine Gesetze – von der Küche für die Arbeitsessen im Bankettsaal, dem Protokoll oder den Dolmetschern einmal abgesehen. Abteilung 6 jedenfalls, der die Geheimdienste unterstehen, genießt einen Sonderstatus. Das fängt damit an, dass sie über eine eigene Registratur verfügt – etwa für die als „top secret“ eingestuften Akten über die NSA-Spähaffäre. Sitzungen finden in einem abhörsicheren Raum statt, in den keine Handys mitgenommen werden dürfen. Im vierten Stockwerk, der „Geheim-Etage“, liegt auch das rund um die Uhr besetzte Krisen- und Lagezentrum des Kanzleramts. Abhörschutz gibt es aber auch sonst mit Panzerglas-Spezialfenstern für die Büros in den oberen Etagen. Die in den langen Verwaltungsflügeln liegen ohnehin zum Innenhof hin – so dass ein Richtmikrofon von außen nie den notwendigen 90-Grad-Winkel bekommt.

Was die Abteilungen vorbereitet haben, fließt um 8.30 Uhr in die „Morgenlage“ ein, an der die Kanzlerin und ihre Berater teilnehmen. Das Bundespresseamt sorgt von 4.30 Uhr an dafür, dass sie zu diesem Zeitpunkt über die „Kanzlermappe“ mit den wichtigsten Zeitungsberichten und Nachrichten der Nacht vertraut ist. An Kabinettstagen findet anschließend ein Vorgespräch mit dem Vizekanzler statt.

Die Kanzlerin mag ihren Schreibtisch nicht

Ist Merkel da, arbeitet sie im Büro – nur für Telefonate mit Staats- und Regierungschefs nutzt sie den offiziellen Schreibtisch, der ihr zu groß ist. Vorrangig sitzt sie am Glastisch zum Vorzimmer hin, um sich schnell mit ihrer Büroleiterin abstimmen zu können. Außerhalb des Büros, so versichern Mitarbeiter, trifft man die Kanzlerin nur, wenn sie auf der Informationsebene im ersten Stock der Presse berichtet, im internationalen Konferenzsaal in derselben Etage große Gesprächsrunden leitet, das Kabinett tagt oder schicke Arbeitsessen im kleinen Kreis oben im achten Stock gegeben werden. Dass sie einmal in einer Sofaecke ihre Akten studieren würde, kommt nicht vor. „Das Kanzleramt“, sagt eine Mitarbeiterin, „ist ein nüchterner Arbeitsort.“

Dafür gibt es zwei Hubschrauberplätze. Einer liegt im Kanzlergarten, wenn es besonders schnell gehen muss. Für die Piloten von Bundespolizei oder Luftwaffe ist es eine Herausforderung, zwischen beiden Gebäudeflügeln zu manövrieren. Der einfachere Landeplatz liegt im Kanzlerpark jenseits der Spree, erreichbar über den Kanzlersteg. Ob nun Merkel samt Entourage in der Maschine sitzt oder nicht, mache keinen Unterschied, erzählt einer der Piloten: „Jeder will doch heil ankommen.“ Er gibt nur ein wenig mehr Gas, weil die Regierungstermine so eng getaktet sind.

Die Mitbringsel der Reisen und die ihrer Gäste brauchen Platz. Neben Skulpturen und Bildern – im achten Stock hängt ein Picasso – steht das Kanzleramt voll mit Geschenkvitrinen. Im Foyer ist die Halskette zu sehen, die Merkel vom turkmenischen Staatschef bekam. In der fünften Etage findet sich ein Kerzenhalter aus Straußeneiern vom Präsidenten Zyperns. Russlands Premier brachte nicht das Bernsteinzimmer, aber ein Teeservice aus Bernstein mit.

Am Sonntag hat Angela Merkel am Tag der offenen Tür der Bundesregierung einige Bürger selbst herumgeführt und nebenbei die „wunderbaren Gärtner“ des Kanzleramts gelobt, die ihr mit „tollen Blumensträußen“ schwere Tage leichter machten. Ob das Haus „ihres“ bleibt oder „seines“ wird, entscheidet sich am 24. September.