David Graeber und David Wengrow werfen in ihrem Buch „Anfänge“ einen neuen Blick auf die menschliche Frühgeschichte – und zeigen in diesen frühen Epochen alternative Möglichkeiten der sozialen Entwicklung auf, die nicht weiter verfolgt wurden.
Stuttgart - Die meisten Menschen heute können sich, so hat eine Umfrage ergeben, eher den Untergang der Menschheit vorstellen als ein Ende des Kapitalismus. Ist also der Zustand, den die menschlichen Gesellschaften in unserem heutigen, von einigen Wissenschaftlern als „Anthropozän“ bezeichneten Zeitalter erreicht haben, alternativlos – ein Ende der Geschichte, nach dem nichts prinzipiell Neues mehr kommen kann? Und wenn ja, welche Weichenstellungen im Lauf der Menschheitsgeschichte haben dazu geführt, dass wir uns in dieser Situation befinden? Das ist eine der Ausgangsfragen, die der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow in ihrem gemeinsamen Buch „Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit“ stellen, das jetzt in deutscher Übersetzung im Verlag Klett-Cotta auf Deutsch erschienen ist.
Bemerkenswert daran ist, dass sich die beiden Autoren ganz unbescheiden an etwas heranwagen, was seit der postmodernen Parole vom „Ende der großen Erzählungen“ als überholt galt. Sie setzen sich dabei kritisch mit zwei Großerzählungen zur Menschheitsgeschichte auseinander, die seit dem 18. Jahrhundert das Bewusstsein zumindest der westlichen Welt prägen.
Differenziertes Bild der menschlichen Frühgeschichte
Die eine hat ihre klassische Form in Jean-Jacques Rousseaus „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Unfreiheit unter den Menschen“ von 1755 gefunden. Im Naturzustand vor dem Beginn der Geschichte, so Rousseau, waren die Menschen frei und gleich, befanden sich in einem Zustand kindlicher Unschuld. Dann ereignete sich mit der Erfindung des Privateigentums der Sündenfall, der die Gleichheit der Menschen beendete, eine Entfremdung von der Natur bedeutete und eine Geschichte von Herrschaft und Knechtschaft, Krieg und Gewalt zur Folge hatte.
Die Gegenerzählung zu dieser Verfallsdiagnose deutet die Menschheitsgeschichte als einen Prozess des Fortschritts, der Zivilisierung und der technologischen Innovationen, der von einfachen zu immer komplexeren Formen des sozialen Zusammenlebens führte: Auf die Jäger und Sammler der Altsteinzeit folgten in der jungsteinzeitlichen Revolution die Erfindung der Landwirtschaft, die Gründung von Städten und schließlich die Entstehung von Staaten mit ihren Bürokratien und ihrer hierarchisch ausdifferenzierten Sozialstruktur.
Obwohl beide Großerzählungen immer noch stark das zeitgenössische Bewusstsein prägen, halten David Graeber und David Wengrow sie für falsch, überholt und zu eindimensional. Sie breiten in ihrem Buch die ethnologischen und archäologischen Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte aus, die ein viel differenzierteres Bild der menschlichen Frühgeschichte zeichnen. Das Material reicht dabei von den vorkolumbianischen Kulturen Nord-, Mittel- und Südamerikas über das minoische Kreta bis zu Kulturen des Indus-Tals, Anatoliens und des alten Orients vor der Entstehung der Großreiche der Ägypter, Assyrer, Babylonier und Perser.
Die beiden Wissenschaftler widersprechen
Der klassischen These, der Übergang von einer Kultur der Jäger und Sammler zu einer von sesshaften Ackerbauern in der Jungsteinzeit habe mit Zwangsläufigkeit zur Entstehung von Bürokratien und monarchischen patriarchalen Herrschaftsformen geführt, widersprechen die beiden Wissenschaftler mit zahlreichen Gegenbeispielen. Da erfährt man von Gesellschaften, die nur saisonal eine an einen festen Ort gebundene Landwirtschaft betrieben, während der übrigen Zeit aber auf die Jagd gingen und so die Festlegung auf ein bestimmtes Modell des Zusammenlebens vermieden. Oder von Häuptlingen und Königen, deren Macht sich nur in theatralischen Ritualen zeigte, die aber außerhalb dieser Rituale keinen Gehorsam erzwingen konnten. Oder von Städten, in deren Zentrum kein Königspalast stand, sondern die als Netzwerk von Nachbarschaften organisiert waren.
Wir müssen uns, so Graeber und Wengrow, von der Vorstellung verabschieden, so etwas wie Politik sei erst im klassischen Athen oder gar in der Amerikanischen und Französischen Revolution erfunden worden. Sie wollen vielmehr zeigen, dass Menschen immer schon über die Formen ihres Zusammenlebens nachgedacht und diskutiert haben und in der Lage waren, aus Sackgassen der sozialen Entwicklung auszubrechen und ganz neu anzufangen: „Die Menschen haben viele 10 000 Jahre mit unterschiedlichen Lebensweisen experimentiert.“ „Anfänge“ möchte nicht zurück zu einem verlorenen „Naturzustand“, sondern diese Lust am Experimentieren, die für die Frühgeschichte der Menschheit charakteristisch war, wiedergewinnen und in diesen frühen Epochen alternative Möglichkeiten der sozialen Entwicklung aufzeigen, die nicht weiter verfolgt wurden.
Anthropologe und Anarchist
David Graeber
Der 1961 in New York geborene und 2020 in Venedig verstorbene Anthropologe lehrte zunächst an der Yale University, dann am Goldsmiths College der University of London und ab 2013 an der London School of Economics. Er wurde vor allem durch sein 2011 (deutsch 2012) veröffentlichtes Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ bekannt, das zum Bestseller wurde, weil es dem Unbehagen nach der Finanzkrise von 2008 Ausdruck verlieh. Der bekennende Anarchist war damals einer der Stichwortgeber der Occupy-Wall-Street-Bewegung.
David Wengrow
Der 1972 geborene britische Prähistoriker studierte Archäologie und Anthropologie in Oxford und ist seit 2011 Professor für vergleichende Archäologie am University College London. Sein breit gestreutes Forschungsinteresse reicht von den Gesellschaften der Jungsteinzeit bis zur Frühgeschichte Ägyptens und Mesopotamiens.
David Graeber, David Wengrow: Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm und Andreas Thomsen. Verlag Klett-Cotta, 670 Seiten , 28 Euro.