Daniel Camargo in Katarzyna Kozielskas „Firebreather“ Foto: Stuttgarter Ballett

Das Publikum liebt den Ersten Solisten Daniel Camargo für seine Ausstrahlung und seine makellose Technik. Jetzt zieht ihn seine Leidenschaft fürs klassische Ballett nach Amsterdam.

Stuttgart - An diesem Freitag tanzt Daniel Camargo zum letzten Mal am Eckensee, als Capitano Adoncino in dem Cranko-Stück „The Lady and the Fool“. Ab August ist der 24-jährige Stuttgarter Publikumsliebling beim Niederländischen Nationalballett unter Vertrag.

Herr Camargo, Sie blicken auf elf Jahre in Stuttgart zurück – vier davon waren Sie an der John Cranko Schule, seit knapp sieben Jahren sind Sie Teil der Kompanie. Was nehmen Sie mit nach Amsterdam, wo Sie ab August Erster Solist des Niederländischen Nationalballetts sein werden?
Alles. Ich habe Stuttgart einfach alles zu verdanken. Ich kam mit knapp 14 Jahren hierher, jetzt werde ich bald 25. In dieser Zeit habe ich alles gelernt, was mich als Künstler, als Mensch ausmacht.
Was hat Sie bewogen, Stuttgart zu verlassen?
Ich habe in letzter Zeit extrem viel gemacht und mich stark weiterentwickelt. Trotzdem bin ich an einem Punkt angelangt, an dem mir klar wurde, dass ich neue Erfahrungen brauche, ein neues Repertoire, kurz: neue Herausforderungen.
Welcher Art sollen diese Herausforderungen sein?
Ich liebe das klassische Repertoire und ich möchte unbedingt noch mehr klassische Ballette tanzen.
Wie fiel die Wahl auf das Niederländische Nationalballett, wo ja durchaus auch viel Modernes getanzt wird?
Ich war im Dezember 2015 als Gasttänzer dort und habe den „Nussknacker“ getanzt. Da habe ich ein Gefühl für die Kompanie bekommen und die Stadt erlebt. Das hat mir gut gefallen und ich dachte, das könnte genau das sein, was ich brauche.
Warum lieben Sie das klassische Ballett so sehr?
Ich wollte immer ein klassischer Tänzer sein, schon als Kind. Die Technik gefällt mir einfach am meisten. Und jetzt, wo ich noch jung bin, ist genau der richtige Zeitpunkt, die großen Klassiker zu tanzen. Nicht, wenn ich über dreißig bin und mein Körper das nicht mehr mitmacht. Aber das heißt nicht, dass ich nur noch klassisch tanzen möchte.
Von welchen Balletten träumen Sie noch?
Da fallen mir einige ein: „Manon“, „Giselle“, „Romeo und Julia“ von Kenneth MacMillan oder „Spartakus“, ein wunderschönes Ballett. Auch „La Bayadère“ von Natalia Makarova finde ich ganz toll…
… das steht in Amsterdam in der nächsten Saison auf dem Spielplan. Gibt es schon konkrete Pläne?
Ja, aber da darf ich noch nichts ausplaudern.
Sie sagen, Sie haben den klassischen Tanz schon als Kind geliebt. Wie sind Sie überhaupt zum Tanz gekommen?
Daran sind meine zwei Schwestern schuld, die beide Tänzerinnen sind. Ich habe als Kind oft beim Training zugeschaut, war in ihren Vorstellungen. Irgendwann haben sie mich gefragt, ob ich nicht mal mitmachen möchte. An ihrer Tanzschule wurde auch Hip Hop und Flamenco unterrichtet. Ich sah die Hip-Hop-Jungs mit ihren tollkühnen Sprüngen, das hat mir gefallen, das wollte ich auch machen. Doch die Lehrer meinten, ich solle es doch erst einmal mit dem klassischen Ballett versuchen, denn wenn man das beherrsche, dann könne man alles andere auch tanzen. Da war ich neun Jahre alt. Und kaum hatte ich mit dem Unterricht angefangen, habe ich den Hip Hop vergessen. Nach ein paar Monaten kamen dann schon die ersten Wettbewerbe, die ersten Preise. Das gab mir den Impuls, in diese Richtung weiterzumachen.
Sie sind 2005 an die Cranko-Schule gekommen, da waren Sie noch nicht einmal 14. Eine schwere Entscheidung?
Ja, aber es war die richtige Entscheidung. Die zwei Jahre, in denen ich dort unter dem großen Tanzlehrer Petr Pestov die Ausbildung absolvierte, waren zwei extrem wichtige Jahre für mich, eine intensive, harte Zeit, in der sich meine klassische Technik sehr stark entwickelt hat. Pestov spielt überhaupt eine große Rolle in meiner Tänzer-Vita, er hat mir die Chance gegeben, bei der Schuljahresabschlussvorstellung 2009 „Notations“ zu tanzen, das hat niemand vorher gemacht.
Eine technisch und darstellerisch äußerst anspruchsvolle Choreografie – Reid Anderson hat Sie daraufhin ins Corps de ballet geholt. In der Pressemitteilung, in der Ihr Abschied verkündet wurde, hieß es, Sie würden gern viel gastieren, mehr als das in Stuttgart möglich sei. Was reizt Sie daran, als Gasttänzer unterwegs zu sein?
Mir gefällt das, weil man jedes Mal in einer neuen Umgebung ist und man von sich selbst dabei ständig neue Seiten kennenlernt. In Amsterdam ist man in dieser Hinsicht sehr offen.
Mit Elisa Badenesals Ihrer Tanzpartnerin haben Sie hier wie auch bei Gastauftritten Ihr Publikum begeistert, etwa in Maximiliano Guerras „Don Quijote“ – Sie beide sind das, was man ein Traumpaar nennt. Werden Sie diese Zusammenarbeit aufrechterhalten?
Wenn wir die Möglichkeit dazu haben – warum nicht? Wir haben ein ganz besonderes Verhältnis und verstehen uns total auf der Bühne.
Was ist es, das Sie beide verbindet?
Schwer zu sagen. Wir wissen inzwischen ganz genau, wie der andere funktioniert, wie er arbeitet. Vielleicht liegt es daran, dass wir beide Latinos sind. Von der Persönlichkeit her sind wir sehr verschieden, aber wir haben dieselbe Mentalität.
Welche Stücke und Rollen haben Sie besonders ins Herz geschlossen?
Lenski in „Onegin“, Basilio in „Don Quijote“. „Romeo und Julia“ war toll, weil ich drei Rollen, also Romeo, Mercutio und Benvolio, tanzen konnte. „Le Sacre du Printemps“ oder „Requiem“, das waren die Highlights. Aber auch John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ ragt heraus. Dieser Stanley Kowalski ist ja nicht unbedingt nett, sondern genau das Gegenteil. Das war eine starke Rolle, weil ich gar nicht wusste, dass ich diese Charakterzüge auch zeigen kann.
Ihre starke Ausstrahlung in Stücken wie „Don Quijote“ oder in dem Solo „Notations I-IV“ von Uwe Scholz hat Ihnen eine begeisterte Fangemeinde beschert. Bringen Sie das Schauspieltalent eigentlich von Haus aus mit?
Nein, das musste ich mir schon auch erarbeiten. Wenn man aus der Ballettschule kommt, ist es erst einmal befremdlich, plötzlich in ganz unterschiedliche Rollen zu schlüpfen. Aber da man mir die Chance gab, immer wieder andere Charaktere zu tanzen, konnte ich jedes Mal etwas dazu lernen. Und mit der Zeit habe ich dann bemerkt, wie viel Spaß mir dieser Rollenwechsel macht.
Was werden Sie an Stuttgart am meisten vermissen?
Ich glaube nicht, dass es irgendwo in der Welt ein Publikum wie in Stuttgart gibt. Das Ballett ist hier ein fester Bestandteil der Kultur. Das Publikum weiß über alles Bescheid, es kennt jede Rolle, weiß, wer tanzt, die Zuschauer verfolgen das alles ganz genau, das ist einmalig. Ansonsten ist Stuttgart eine ruhige Stadt, die eine gemütliche Seite hat, da werde ich mich in Amsterdam umstellen müssen.
Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Keine Ahnung. Ich versuche im Moment zu leben und mich auf mein Bauchgefühl zu verlassen. Ich will einfach nur weiter hart arbeiten und viele schöne Rollen tanzen.

Das Gespräch führte Ulla Hanselmann.

Info

Ausbildung Daniel Camargo wurde in Sorocaba in Brasilien geboren. Von 2000 bis 2005 besuchte er die Tanzschule des Teatro Guiara in Curitiba. Dann entdeckte ihn Tadeusz Matacz, der Direktor der John Cranko Schule, beim Wettbewerb Youth America Grand Prix und lud ihn ein, nach Stuttgart zu kommen.

Karriere Camargo schloss seine Tanzausbildung an der Cranko-Schule nach vier Jahren im Juli 2009 ab – seit der Spielzeit 2009/10 gehört er zur Kompanie am Eckensee. Corps de ballet, Halbsolist, Solist, seit 2013 Erster Solist: Der zurückhaltende Brasilianer legte den Weg an die Tanzspitze im Spitzentempo zurück.

Preise Für sein technisches Können wie auch seine darstellerischen Fähigkeiten wurde Camargo 2011 mit dem Deutschen Tanzpreis Zukunft geehrt. Mit seiner Tanzpartnerin Elisa Badenes, mit der er zahlreiche Gastauftritte in Australien, Kanada und Deutschland absolvierte, gewann er im gleichen Jahr den Publikumspreis beim Erik Bruhn Wettbewerb. An diesem Freitag, 27. Mai, tanzt Camargo beim Ballettabend „Cranko-Klassiker“ in dem Stück „The Lady and the Fool“ zum vorerst letzten Mal in Stuttgart. (uh)