Nietzsche und Tristan Tsara in der Schau „Dada Universal“ im Schweizerischen Landesmuseum Foto: KEYSTONE/dpa

100 Jahre Dada: Zürich feiert das Jubiläum mit mehreren Ausstellungen und zahlreichen Veranstaltungen – voller Stolz darauf, dass mit Dada eine der wichtigen künstlerischen Strömungen der Moderne in der Schweiz ihren Anfang genommen hat.

Zürich - Im Februar des Jahres 1916 hat wohl kaum ein Bewohner der Zürcher Spiegelgasse geahnt, dass von hier aus die beiden wichtigsten Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Ausgang nehmen sollten: In Haus Nummer 14 lebte der russische Emigrant Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte und bald nach Russland aufbrechen sollte, um die Oktoberrevolution zu entfesseln. Und wenige Schritte von Lenins bescheidener Untermietwohnung entfernt öffnete in Haus Nummer 1, Ecke Münstergasse, am Abend des 5. Februar 1916 die „Künstlerkneipe Voltaire“ und begründete damit eine der folgenreichsten künstlerischen Bewegungen der Moderne, die sich den Namen Dada gab.

Hundert Jahre ist das nun also her, und die Stadt an der Limmat ist ganz dada, feiert das Jubiläum mit mehreren Ausstellungen und zahlreichen Veranstaltungen, voller Stolz darauf, dass mit Dada wenigstens eine der wichtigen künstlerischen Strömungen der Moderne in der Schweiz ihren Anfang genommen hat. Die umfassendste Ausstellung zum Thema hat das Schweizerische Landesmuseum unter dem Titel „Dada Universal“ zusammengestellt, während das Kunsthaus Zürich mit der Rekonstruktion des dadaistischen Buchprojekts „Dadaglobe“ einen Meilenstein der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Dada präsentiert.

In Zürich versammelten sich im ersten Weltkrieg emigrierte Künstler

Dass Dada in der beschaulichen Stadt an der Limmat entstanden ist, hat wenig mit der Schweiz zu tun, die damals ein bäuerlich-bürgerlich geprägtes, konservatives Land mit einer eher provinziellen Kunstszene war, sondern mit der Tatsache, dass sich in dem nicht Krieg führenden Land Emigranten und Kriegsflüchtlinge aus ganz Europa versammelten. Kaum mehr als hundert Kilometer von der Spiegelgasse entfernt tobte der Weltkrieg, an der deutsch-französischen Front fand tagtäglich das Massensterben der Soldaten statt, nur zwei Wochen nach dem Premierenabend im Cabaret Voltaire begann in Verdun eine der blutigsten Schlachten des opferreichen Krieges.

Auch Hugo Ball und Emmy Hennings, ein junges Künstlerpaar aus Deutschland, waren dem Krieg entronnen und schlugen sich in Zürich mit Gelegenheitsjobs durch. Als die beiden im Obergeschoss der Altstadtkneipe Meierei für den Abend des 5. Februar zu „Vorträgen und Rezitationen“ per Plakat einluden, stellte dies für Ball und Hennings einerseits ein existenzielles Notprogramm dar, andererseits aber auch den Versuch, der internationalen Emigrantengruppe ein von Pazifismus und Freiheitsliebe geprägtes öffentliches Forum zu geben. Zu Beginn führten die beiden simple, aber auch zunehmend exzentrische Programme auf. Als der rumänische Schriftsteller Tristan Tzara das Künstlerduo verstärkte und seine Gedichte schluchzend und schreiend rezitierte, als im Laufe des Jahres 1916 mit Hans Arp, Richard Huelsenbeck und Marcel Janco Gleichgesinnte im Cabaret Voltaire auftraten, als das Lautgedicht, die künstlerische Aktion und die Dekonstruktion traditioneller Kunstformen feste Bestandteile der dadaistischen Vortragsabende wurden, war eine künstlerische Bewegung begründet, die bis in unsere Zeit nachwirkt.

Dadaismus wurde mit Revolution gleichgesetzt

Provokation war von Anbeginn an ein wesentliches Element dadaistischer Kunst, und die Schweizer Öffentlichkeit reagierte auch sogleich wie von den Dadaisten gewünscht: das „Neue Winterthurer Tagblatt“ schrieb: „Wir lehnen diesen Bolschewismus in der Kunst so glatt ab wie den Bolschewismus überhaupt“, und gab das bürgerliche Hauptthema für die Ablehnung von Dada vor, nämlich die Gleichsetzung des Dadaismus mit politischer Radikalität, Revoluzzertum und Umsturz.

Vom ästhetischen, geistesgeschichtlichen und literarischen Siegeszug des Dadaismus, der von seinen Kritikern dann doch nicht aufzuhalten war, von seinen vielgestaltigen und weit verzweigten Wirkungen auf die Kunst im 20. und 21. Jahrhundert erzählt die Ausstellung im Landesmuseum. In 18 thematisch gestalteten Vitrinen repräsentieren Objekte, Texte und Filmausschnitte die unterschiedlichen Ausprägungen des Dada, vor allem aber seine geistigen Grundlagen und Vorläufer sowie seine Wirkungsgeschichte.

Vom Cabaret Voltaire wirkte der Dada hinaus in die Welt

In Natur- und Geistesgeschichte werden die Urväter des Dada gefunden, etwa in einem Vogel namens Dodo, der als flugunfähiger „Irrtum der Natur“ qualifiziert wird und so dem Geist des Dada entspricht, der als Kunstform die Kunst als solche negiert. Oder in Friedrich Nietzsche, dem großen Neinsager und Gottesleugner der Philosophie. Künstler, die im engeren Sinn nicht als Dadaisten zu bezeichnen sind (wie Marcel Duchamps), sind in der Ausstellung vertreten, wenn sie nur dem provokanten Bildersturm der dadaistischen Kunstauffassung nahestanden. Duchamps’ Readymades stellen, hier durch sein als „Fountain“ zum Kunstwerk erhobenes Urinal und sein Fahrrad-Rad repräsentiert, Inkunabeln der Moderne dar, die aus dem Geist des Dada erwachsen sind.

Im Zentrum des abgedunkelten Ausstellungsraumes steht die hell erleuchtete Box eines imaginierten Cabarets Voltaire, dessen summarischer Nachbau jenen Nabel darstellt, von dem aus Dada in die Welt wirkte – nach Berlin und Paris, Köln und Hannover, nach New York und zurück in die Schweiz, wo die Bürger, so Tristan Tzara 1916, „mehr zum Jodeln neigen als zum Kubismus“, die Jugendbewegung in Zürich 1980 sich jedoch explizit auf Dada bezog, wenn sie forderte, aus dem Staat Gurkensalat zu machen oder – um freie Sicht aufs Mittelmeer zu erlangen – die Alpen zu sprengen.

Der Dadaismus beeinflusst noch die Polit- und Pop-Art von heute

Die internationalen Verknüpfungen des Dadaismus sind auch das Thema von „Dadaglobe“ im Kunsthaus Zürich. Während das Landesmuseum bedauerlicherweise keinen Katalog zu seiner Schau erarbeitet hat, ist im Falle von „Dadaglobe“ die begleitende Publikation die eigentliche Hauptsache der Ausstellung. Rekonstruiert wurde ein nie realisiertes Buchprojekt, das vom Mitbegründer des Dadaismus, Tristan Tzara, 1921 als eine ultimative Anthologie des Dada konzipiert wurde. Tzara schrieb dafür per Serienbrief zahlreiche Dada-Künstler in Europa und Amerika an und bat diese um Text- und Bildbeiträge für eine umfassende Apotheose und Dokumentation der Kunstbewegung. Entstanden sind dann rund 200 Bild- und Textbeiträge von 30 Künstlern, darunter von Hans Arp, Constantin Brancusi, Max Ernst, Hannah Höch und Man Ray. Das Buchprojekt wurde aus finanziellen und organisatorischen Gründen jedoch nie abgeschlossen, erst jetzt wurde für die Ausstellung im Kunsthaus das Buch rekonstruiert und in einer editorisch beeindruckenden Ausgabe vorgelegt. In der Kabinett-Ausstellung sind 160 Arbeiten, die für das Buchprojekt eingesandt worden waren, in einer dichten Abfolge von Collagen, Fotografien, Drucksachen, Texten, Zeichnungen und Kleinskulpturen arrangiert. Diese belegen die sehr unterschiedlichen Ausprägungen des Dadaismus, so die immanent politische in Berlin, bei John Heartfield etwa oder bei Raoul Hausmann, in dessen Text „Warum Hindenburg ’nen Vollbart trägt“ dadaistischer, unverbindlicher Unsinn mit einem Mal einen eindeutig politischen Sinn erhält. Die Beiträge der französischen, italienischen und spanischen Dadaisten blieben hingegen insgesamt weniger politisch geprägt, waren vor allem der Tradition der inszenierten Sinnlosigkeit und zunehmend einer Ästhetisierung und formalen Glättung des Dada verpflichtet.

Von Paris aus sollte Dada auch seine Wirkung in die Zukunft erhalten, sollte den Surrealismus, die Pop-Art und Apologeten des Dada wie Jonathan Meese beeinflussen. In der Polit- und Populärkultur inspiriert Dada bis heute so verschiedenartige Phänomene wie Punk, Lady Gaga, Helge Schneider, Femen oder Pussy Riot. Die künstlerische Bewegung, die in einer Kneipe in der Zürcher Altstadt vor hundert Jahren ihren Anfang nahm, ist noch lange nicht allein als museales Phänomen zu begreifen. Dada lebt!