Gerd Müller im Gespräch mit Flüchtlingen in der von Dürre und Hunger geplagten Somali-Region in Äthiopien im April 2017 Foto: dpa

Gerd Müller hat in seiner zweiten Amtszeit als Minister für Entwicklungshilfe sein Bewusstsein für die Nöte der Welt geschärft. Offen spricht der CSU-Mann aus, was er über Hunger und Flucht denkt – und bildet einen erstaunlichen Gegenpol in seiner Partei.

München - Gerd Müller ist aufgebracht. Besonders wenn es um Afrika geht, ist dem 62-jährigen CSU-Mann seine Empörung anzumerken. Was maßt sich Europa gegenüber diesem riesigen Kontinent und den Abermillionen Menschen, die dort leben, an? Drastisch tut der Entwicklungshilfeminister seinen Zorn kund – in diesen Tagen zum Beispiel, wenn es gegen Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und die Kürzung des Entwicklungshilfeetats geht. „Hunger ist Mord!“, ruft Müller: „Wir können nicht sagen, das da in Afrika geht uns nichts an. Dann machen sich nämlich noch mehr Menschen auf den Weg zu uns und...“ Müller beendet den Satz mit einer für sonstiges CSU-Denken geradezu skandalösen Bemerkung: „...und holen sich, was ihnen zusteht.“

Gerd Müller ist Entwicklungsminister in zweiter Amtszeit. In der CSU galt er mit seinen Ansichten schon immer ein bisschen als Exot. Doch nun scheint sich dieser Exot aus Sicht seiner Partei weiter zu radikalisieren. Vieles an globalwirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Zusammenhängen, räumt er ein, „habe ich vor vier Jahren auch noch nicht so gesehen“. Umso heftiger fordert er jetzt ein, „unsere Verantwortung in den Herkunftsländern der Flüchtlinge“ wahrzunehmen. Das „Wertebewusstsein“, das seine Partei sonst immer nur den Zuwanderern abverlangt, dreht Müller herum und münzt es auf „uns Reiche“, die sich vom „Neokolonialismus“ abzuwenden und ein „Weltethos“ zu entwickeln hätten, aus christlichem Geist ebenso wie aus Eigeninteresse: „Es geht uns langfristig nur gut, wenn es den anderen auch gut geht.“

Für seine Partei könnte Müller noch wichtig werden

Müller hält diese Rede in Tutzing, in der Politischen Akademie des Freistaats Bayern. Zur Tagung über die Bekämpfung von Fluchtursachen haben ihm seine Leute im Ministerium ein Manuskript mitgegeben. Das legt Müller aber gleich am Anfang zur Seite. Mit umso mehr Wucht kommt dann durch, was er selber sagen will.

„20 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen 80 Prozent der globalen Ressourcen und verursachen zwei Drittel der Weltverschmutzung“, erklärt der Minister. In Deutschland stoße eine Person rechnerisch zwanzigmal so viel Kohlendioxid aus wie ein Mensch in Bangladesch; für den Klimawandel, der mit steigendem Meeresspiegel als erstes Bangladesch „verschlingen“ werde, sei Deutschland also ungleich stärker verantwortlich.

Müller fährt fort: „Wir sind die erste Generation, die den Planeten an den Rand des Abgrunds führen kann.“ Die Politik denkt für ihn „zu kurzfristig, oft nur ein Jahr weit, wenn überhaupt.“ Und die hochgelobte deutsche Industrie? „Der Siebener-BMW“, sagt Müller da mitten in Bayern, „ist keine Antwort auf den Autohunger in Indien und Afrika; bei Mobilitätsfragen denken wir nur an unsere Großstädte. Nachhaltige Antworten für die Mobilität in Schwellenländern haben wir nicht.“

Auch wenn die Mehrheit in seiner Partei diese Aussagen niemals teilen würde – Müller könnte für die CSU in Zukunft wichtig werden. Er poltert nicht wie Markus Söder, spielt nicht mit Provokationen wie Horst Seehofer und benutzt das Bekenntnis zum christlichen Menschenbild nicht als Waffe zur Abgrenzung. In der CSU-Landesgruppe wird das genau registriert. Dort ist man mit dem Erscheinungsbild der CSU viel unzufriedener als es nach außen scheint. Auch diejenigen, die in der Sache eher selten seiner Meinung sind, schätzen Müllers Mut, eigene Parteipositionen zu hinterfragen. Nicht viele in der CSU trauen sich das. Und in Berlin ist Müller der CSU-Spitzenpolitiker, der noch am ehesten gesprächsfähig mit anderen Parteien ist.

Müller nimmt Wirtschaft und Handel in den Blick

In Tutzing führt Müller seinen furiosen Ritt durch die Ungerechtigkeit der Welt fort. Von einer „dramatischen Bevölkerungszunahme in Afrika“ berichtet der Minister; zwanzig Millionen neue Jobs brauche oder bräuchte Afrika jedes Jahr: „Die EU verschläft das“, sagt Müller. „Von fünfzig jungen Afrikanern muss sich heute nur einer nach Europa durchschlagen, dann können zuhause 50 bis 100 Leute leben.“ Dann dreht er den Gedanken herum: „Gebt mir eine Milliarde Euro, und ich mache euch 100 Milliarden draus!“

Örtliche Wirtschaftsförderung schaffe „die stärksten Impulse“, sagt Müller – unter einer Bedingung: „Wir brauchen keinen freien, sondern einen fairen Handel.“ Bei der Jeans zum Beispiel, die in Bangladesch für fünf Dollar genäht und in München für 100 Euro verkauft werde: „Wir müssen den Näherinnen nur einen Dollar mehr zahlen, und schon wirkt das existenzsichernd für diese Frauen.“

Eines ist für Müller jedenfalls klar: „Wenn wir meinen, wir könnten Mauern bauen gegen Milliarden von Menschen, dann werden wir scheitern.“