Die Geburt eines Kindes ist für Eltern eines der wichtigsten Ereignisse im Leben – aktuell wird die Vorfreude allerdings erheblich getrübt. Foto: imago/Westend61

Weil Corona immer mehr Schwangere trifft, verschärft sich der Personalmangel auf den Geburtsstationen in der Region – und nimmt dramatische Ausmaße an. Mediziner sind verzweifelt. Immer häufiger müssen Gebärende kurzfristig verlegt werden.

Esslingen - Die Geburt eines Kindes ist für Eltern ein besonderes, letztlich auch ein besonders schönes Ereignis. Doch die vierte Coronawelle führt in den Kreißsälen und bei werdenden Müttern und Vätern in der Region Stuttgart dazu, dass die Freude erheblich getrübt wird. Vielmehr schrillen gerade überall die Alarmglocken.

 

Beispiel Esslingen: „Für viele Gebärende wird der schöne Moment in diesen Tagen zum großen Problem“, räumt Professor Thorsten Kühn, der Chefarzt der Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Klinikum Esslingen, ein. Dabei, so fügt die für den Kreißsaal verantwortliche Leitende Oberärztin Manuela Bihler hinzu, „sind Sicherheit und das Wohlfühlen bei einer Geburt so wichtig. Schwangere sind doch eine ganz besondere Gruppe von Patienten.“

„Menschlich eine ganz schwierige Situation“

Doch auch deren Versorgung wird in der Coronapandemie immer schwieriger. Früher konnten werdende Eltern den Einladungen der Kliniken folgen und lange vor der Geburt die Wunschklinik und die Entbindungsmethode auswählen. Die Wirklichkeit im Dezember 2021 sieht ganz anders aus: „Es kommt immer häufiger vor, dass Schwangere zu uns kommen, wir sie dann aber nicht betreuen können, weil uns dafür das Personal fehlt“, sagt Bihler. „Das ist menschlich eine ganz schwierige Situation, wenn Schwangere so kurz vor der Entbindung abgewiesen werden müssen“, weiß auch Thorsten Kuhn.

Früher konkurrierten Kliniken um Schwangere, heute weisen sie sie ab

Das gehe allen Kliniken in der Region ähnlich: Oft müssten die Kollegen sieben bis acht Krankenhäuser anrufen, ehe sich jemand bereit erkläre, die Gebärende zu übernehmen. Im Gegenzug kämen immer wieder Krankentransporte mit Hochschwangeren in die Esslinger Notaufnahme – deren Fahrer erzählen, dass sie zuvor an fünf Kliniken abgewiesen worden seien. Kühn: „Die Zeit, als die Kliniken in der Region um Schwangere konkurriert haben, ist vorbei. Jetzt versuchen wir verzweifelt, regionale Netzwerke zu bilden, um überhaupt noch eine angemessene Betreuung garantieren zu können.“

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Wie dramatisch die Situation ist, werde daran deutlich, dass man nicht einmal Patientinnen, die während der Schwangerschaft mehrere Wochen in der Klinik verbringen mussten, garantieren könne, dass sie in Esslingen entbunden werden können.

Die Zahl der infizierten Schwangeren wächst täglich

Es sind drei Gründe, die zur aktuellen Lage führen. Neben der Tatsache, dass in der Coronazeit zehn Prozent mehr Kinder gezeugt worden sind, und dem seit Jahren bekannten generellen Hebammenmangel sind es vor allem Schwangere, die mit Corona infiziert sind, die eine ausreichende Versorgung aller Gebärenden erschweren. Der Anteil der Infizierten wächst momentan ständig. Thorsten Kühn: „In der ersten Coronawelle hatten wir in Esslingen keine einzige schwangere Coronapatientin.“ Jetzt komme das mehrmals pro Woche vor.

„Normalerweise sind bei uns pro Schicht zwei Hebammen im Einsatz, die sich dann um fünf bis sechs Geburten kümmern können“, erläutert Manuela Bihler die Organisation im Esslinger Kreißsaal: „Wenn aber klar ist, dass die werdende Mutter an Corona erkrankt ist, oder wenn der PCR-Schnelltest, den wir bei jeder Aufnahme sofort durchführen, positiv ist, können wir diesen Betreuungsschlüssel natürlich nicht mehr halten.“

Nur Impfen bringt den Ausweg aus der Misere

Dann müsse sich eine Hebamme während der gesamten Geburt, die sich oft über viele Stunden oder gar über mehrere Schichten hinwegziehen könne, ausschließlich um die Coronapatientin kümmern. „Da müssen wir dieselben Sicherheitsstandard wie auf allen anderen Coronastationen einhalten, zumal sich Gebärende verständlicherweise ja nicht immer unter Kontrolle haben“, sagt Manuela Bihler.

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Impfungen seien der einzige Weg, um aus der Misere herauszukommen, davon sind Kühn und Bihler überzeugt. Deshalb bedauern sie es, dass die Ständige Impfkommission lange gezögert hatte, das Impfen von Schwangeren zu empfehlen – erst seit diesem September rät die Stiko dazu, Frauen nach der zwölften Schwangerschaftswoche mit Biontech zu immunisieren: Diese späte Entscheidung habe dazu geführt, dass viele Schwangere beim Impfen zurückhaltend seien – weil sie fürchten, dass damit Risiken für sie selber und ihr ungeborenes Kind verbunden seien. Aber genau das Gegenteil sei der Fall. „Gerade Schwangere sind nicht durch die Impfung, sondern durch die Erkrankung mit Covid-19 gefährdet“, betont Thorsten Kühn.

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Manuela Bihler berichtet von Forschungsergebnissen, die gezeigt hätten, dass geimpfte Schwangere im Falle einer Infektion deutlich schwächere Symptome hätten, und dass die Impfung wohl auch als Nestschutz für Babys wirken könne. Im Gegenzug müsse man erkennen, dass Covid bei Ungeimpften das Risiko eines schweren Verlaufs vor allem in der zweiten Schwangerschaftshälfte deutlich erhöhe. Ab der 30. Woche steige das Hospitalisierungsrisiko um 20 Prozent. Bei zehn Prozent der Erkrankten komme es zudem zu vorzeitigen Geburten. Auch das Risiko von Thrombosen steige – ebenso die Zahl der Kaiserschnitte.

Das Risiko ohne Impfung steigt in der zweiten Schwangerschaftshälfte

Eine erfreuliche Nachricht allerdings gibt es für alle Gebärenden, die sich mit dem Virus infiziert haben. Thorsten Kühn: „In den meisten Fällen bleiben die Babys von der Infektion verschont.“