Die Lage auf den Intensivstationen ist weiter bedrückend. Foto: dpa/Marijan Murat

Die Leiter der beiden größten Krankenhäuser in Stuttgart halten die aktuelle Corona-Lage nicht mehr für hinnehmbar. Der Chef des Robert-Bosch-Krankenhauses sagt, die Politik müsse sich zwischen Lockdown oder Impfpflicht entscheiden. Der Vorstand des städtischen Klinikums spricht sich für eine Impfpflicht aus.

Stuttgart - Die Corona-Pandemie hat derzeit eine Dynamik, die man sich im Sommer gar nicht vorstellen konnte. Nun mehren sich die Forderungen für die Einführung einer Impfpflicht. Mark Dominik Alscher, der Medizinische Geschäftsführer des Robert-Bosch-Krankenhauses (RBK), sieht derzeit drei Möglichkeiten politischen Handelns: „Entweder konsequente Kontaktreduzierung (bis hin zu einem Lockdown) oder wirksame Impfung bei über 85 bis 90 Prozent der Bevölkerung. Wenn weder das eine noch das andere realisiert wird, ansteigende Todesfälle durch Überlastung des Gesundheitswesens von insbesondere Ungeimpften, aber auch Geimpften.“

Freiheit darf andere nicht gefährden

Klar ist für den RBK-Chef, „wenn die Impfungen in einer Größenordnung von 85 bis 90 Prozent der Bevölkerung gelungen wären, hätten wir heute die Situation, dass das Thema Pandemie wie in anderen Ländern weitgehend hinter uns liegen würde, wir nicht über Schließung von Weihnachtsmärkten und überfüllten Intensivstationen sprechen müssten“. Auf der anderen Seite sie aber die unabhängige und freie Entscheidung des einzelnen Menschen hinsichtlich medizinischer Maßnahmen ein hohes Gut. Grenzen finde diese Entscheidungsfreiheit allerdings, „wenn durch Nutzung dieser Freiheiten das Leben anderer Menschen signifikant gefährdet ist“. Dann könne „als letztes Instrument auch eine Verpflichtung zu medizinischen Maßnahmen erfolgen“. Die Entscheidung für eine allgemeine Impfpflicht sei allerdings dadurch erschwert, erklärt Mark Dominik Alscher, „dass es die Maßnahmen der Kontaktisolierung gibt und damit eine Alternative besteht, sodass die Entscheidung eine politische und gesellschaftliche ist“.

Erst große Hoffnungen, jetzt Schlusslicht beim Impfen

Als Arzt müsse er jetzt aber darauf hinweisen, „dass es jetzt zu einer Entscheidung zwischen den beiden Möglichkeiten – Kontaktbeschränkungen oder Impflicht – kommen muss“. Die dritte Möglichkeit, betont der RBK-Chef, „die aktuell praktiziert wird, ist nicht tolerabel“.

Jan Steffen Jürgensen, der Medizinische Vorstand des Klinikums der Stadt Stuttgart, erinnert an den 27. Dezember 2020, als in dem vom Klinikum damals betriebenen Impfzentrum Liederhalle die erste Covid-19-Schutzimpfung in Baden-Württemberg vorgenommen wurde. „Das war ein Meilenstein und gab Anlass zu riesigen Hoffnungen, den Wendepunkt in der schrecklichen Pandemie erreicht zu haben“. Fast ein Jahr später sei das Land aber „Schlusslicht der alten Bundesländer bei den Erstimpfungen, die Intensivstationen laufen voll mit bedrückenden Prognosen“.

Mehrheit in Geiselhaft der Minderheit

„Jeder dritte Intensivpatient mit Covid-19 stirbt“, umreißt Jan Steffen Jürgensen die aktuell schwierige Lage. Das bedeute zunächst Leid und Qualen für die Betroffenen „der ganz überwiegend ungeimpften Patienten“. Es bedeute aber auch „eine enorme körperliche und seelische Last für die Pflegekräfte, deren Motivation in der ersten Wellen herausragend war, die sich heute aber auch fragen müssen, warum diese Misere billigend von Ungeimpften in Kauf genommen wird“, macht der Klinik-Chef deutlich. Und es sei vor allem eine Zumutung für alle, die jetzt unter verschobenen Operationen leiden: Circa 30 Prozent der Operationen im Klinikum Stuttgart würden derzeit verschoben, „weil immer mehr Kapazitäten durch Covid blockiert werden“. Davon betroffen seien inzwischen auch Patienten mit bösartigen Erkrankungen im Frühstadium, „wodurch Prognosen verschlechtert und die Hoffnung auf schnelle Heilung unschuldiger Menschen enttäuscht werden“, macht der Mediziner deutlich. „Das ist unwürdig und eine Zumutung. Der Begriff von einer Gesellschaft in Geiselhaft einer unwilligen Minderheit ist treffend.“

Pflichten sind Teil des gesellschaftlichen Lebens

In unserer Gesellschaft gebe es Schulpflicht, Gurtpflicht und in allen Lebenslagen Regeln, die auch Rücksichtnahme und Interessensausgleich bedeuteten. Er selbst möchte auch nicht von einem Koch bedient werden, der es für seine Freiheit hielte, seine Hände nicht zu waschen. Oder seine Mutter von einer Pflegekraft betreuen lassen, die nicht durch Impfungen auch zum Schutz der ihr anvertrauten Patienten beiträgt.

Jan Steffen Jürgensen erinnert daran, dass „der Impfschutz gegen Covid-19 ist verfügbar ist, er ist sicher, er ist weltweit bald acht Milliarden mal eingesetzt und er bleibt der einzige Weg, ohne riesige weitere Schäden von Schulschließungen bis zur Überlastung des Gesundheitswesens diese Pandemie zu beenden“. Um die Freiheit zurückzugewinnen, halte er Impfungen mittlerweile „nicht mehr nur für einen vernünftigen, solidarischen und moralisch richtigen Schritt, sondern eine Impfpflicht für angemessen“, sagt der Klinikums-Chef entschieden.