In der Pflege betagter und dementer Menschen sind Berührungen notwendig und wichtig – umso mehr müssen sich die Beschäftigten schützen können. Foto: dpa/Christophe Gateau

Zehn Senioren sind in einem Würzburger Pflegeheim am Coronavirus gestorben. Ein einzigartiger Fall? Nein, warnen die Fachleute aus den Pflegeeinrichtungen und sozialen Diensten.

Stuttgart - Die Misere ist buchstäblich mit Händen zu greifen. „Wir haben nicht genügend Schutzausrüstung: Die Pflegeeinrichtungen, egal ob stationär oder ambulant, halten Mundmasken, Kittel, Handschuhe und vor allem Desinfektionsmittel nicht auf Vorrat“, sagt Beatrix Vogt-Wuchter, Abteilungsleiterin beim Diakonischen Werk Baden. „Alle fünf Minuten ruft mich jemand von draußen an und fragt: Wie sieht es aus – wann kriegen wir etwas?“ Ein „Riesenproblem“ sei das für die Beschäftigten und für die alten Menschen. Groß ist das Unverständnis, dass die vom Bund zugesagte Ausrüstung noch immer nicht eintrifft.

Die Pflegekräfte arbeiten an vorderster Front – mit zunehmenden Ängsten. „Eine Sozialstation fährt von Haus zu Haus – da weiß ich ja nicht, wer da alles im Haushalt war“, schildert Vogt-Wuchter. Vereinzelt habe es schon Infektionen gegeben – auf beiden Seiten. Weitere Fälle wären die logische Folge der aktuellen Situation.

„Verdachtsfälle in Pflegeberufen vorrangig testen“

Gerade erst sind in einem Würzburger Altenheim zehn Bewohner am Coronavirus gestorben. 29 weitere Senioren wurden positiv getestet, zudem 33 Mitarbeiter. „So eine Tragödie kann sich überall wiederholen“, warnt die Verdi-Landesfachbereichsleiterin Irene Gölz. „Wenn Pflegekräfte ungeschützt von Bewohner zu Bewohner gehen und jeden anstecken, besteht diese Gefahr.“ All der Aufwand werde doch vor allem wegen der Hochbetagten betrieben. „Aber wir lassen die Pflegekräfte in die Heime, ohne sie zu schützen und flächendeckend zu testen – weil man Schiss hat, Mitarbeiter zu verlieren“, tadelt Gölz.

Auch die Fachfrau von der Diakonie macht Druck: „Wir wünschen uns, dass Menschen in Pflegeberufen bei Verdachtsfällen genauso wie in Krankenhäusern vorrangig getestet werden“, sagt sie – selbst auf die Gefahr hin, dass neue Ausfälle die ohnehin schon vorhandene Personalnot noch vergrößern. Mit Zeitarbeitern, Honorarkräften und „allem, was auf dem Markt noch verfügbar ist, wird das Personal aufgestockt“. Dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen der Liga der freien Wohlfahrtspflege im Land schon seine Unterstützung angeboten hat, weil der Bundesgesundheitsminister bis Ende September den Pflege-Tüv ausgesetzt hat, nennt Vogt-Wuchter löblich, „wird die Welt aber nicht retten“. So viele Fachkräfte seien es eben auch nicht.

Die alten Menschen haben ihre Probleme mit Corona

Immer öfter erhalten die Pflegebedürftigen wegen der aktuellen Krise auch nicht mehr die Leistungen, die sie von ihrer Sozialstation gewohnt sind. „Waschen und Anziehen sind dann wichtiger als Hilfen im Haushalt.“ Auch in den Heimen tun sie sich schwer mit Corona. Viele Maßnahmen wie die Besuchsverbote oder das Tragen einer Gesichtsmaske verstehen viele nicht. „Das sind teils hochaltrige, multimorbide, demenziell erkrankte Menschen, die vielleicht keine Quarantäne oder Schutzmaßnahmen akzeptieren“, sagt die Abteilungsleiterin. Diese alten Menschen verharren nicht im Zimmer. „Das ist ja nicht wie im Krankenhaus, wo jeder in seinem Bett bleibt.“

Die Pflegebeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Heike Baehrens, versucht den Ärger über die mangelnde Schutzausrüstung zu dämpfen: „Bei aller Not muss man ein bisschen für Geduld werben – es wird auf allen Ebenen intensiv daran gearbeitet.“ Sie habe „den Eindruck, dass in dieser Ausnahmesituation alles getan wird, was sinnvoll erscheint“, sagt sie zum Maßnahmenpaket der großen Koalition. „Aber wenn uns in der Umsetzung noch Dinge auffallen, die nicht ausreichend sind, wird man bald nachbessern müssen.“

Tagespflegeeinrichtungen in Existenznöten

Baehrens lenkt den Blick zudem auf kritische Regelungen in Baden-Württemberg: Dort sei verfügt worden, alle Tagespflegeeinrichtungen zu schließen. „Kleine Betriebe gehen dann schnell in die Insolvenz.“ Sie sei daher froh, dass die Landesregierung diese Regelung für ältere Menschen mit dringendem Bedarf wieder ein bisschen geöffnet hat, auch wenn es für die Einrichtungen einen Personalaufwand bei geringen Einnahmen bedeute. Daher müsse ein wirtschaftlicher Ausfall bei den Tagespflegen noch ausgeglichen werden.

Ferner fordert die Göppinger Abgeordnete die Landesregierung auf, die Regeln für die Kinder-Notbetreuung zu lockern. Nach der Corona-Verordnung dürfen dort nur Kita-Kinder und Schulkinder bis zur Klasse sechs betreut werden, wenn beide Elternteile in der kritischen Infrastruktur arbeiten – dazu gehört die medizinische und pflegerische Versorgung. Auch Alleinerziehende in diesen Berufen können ihre Kinder in die Notbetreuung geben.

Nachbesserung bei Kindernotbetreuung gefordert

„Für die Menschen in den Gesundheits- und Pflegeberufen ist diese Regelung ein Riesenproblem“, sagt die SPD-Abgeordnete. Wenn die Pflegekraft, wie es oft vorkomme, in Teilzeit arbeite und der Partner in Vollzeit, dann bleibe dieser als Vollverdiener nicht zu Hause, um die Kinder zu betreuen. So falle die Pflegekraft aus, obwohl sie dringend gebraucht werde. „Da muss die Landesregierung nachbessern“, fordert Baehrens. „Jedes Elternteil, das als Arzt oder Pflegekraft arbeitet, muss Anspruch auf Kindernotbetreuung haben.“

Dies dürfe man aber nicht erst machen, wenn die Not groß sei – sonst gehe dies zu Lasten der Kinder, die einen regelmäßigen Rahmen benötigten. „Kinder dürfen nicht zum Spielball in der Krise werden“, sagte die Göppingerin. Ihrer Erfahrung nach wäre eine Lockerung für die Gemeinden mit Notbetreuung kein Problem, weil dort ohnehin nur relativ wenige Kinder von den Erzieherinnen betreut würden. Die Regierung in Bayern habe eine ähnliche Regelung in Erwartung von Engpässen im Gesundheits- und Pflegebereich bereits wieder aufgehoben.