Finanzminister Scholz schilderte Anne Will seine neuste Idee im Virus-Kampf. Foto: dpa/Wolfgang Borrs

Wie drastisch müssen Maßnahmen gegen das Coronavirus sein? Bei Anne Will hielten die Experten ein Limit noch nicht für erreicht. Es gab ein Plädoyer für frische Luft – und Olaf Scholz holte wieder die Bazooka raus.

Stuttgart - Wie ein roter Faden zog sich trotz der Krise ein latenter Zoff zwischen Politikern und Wissenschaftlern durch diese Sendung. Bei der ARD-Talkshow von Anne Will am Sonntagabend ging es um die Frage, ob wir „drastischere Maßnahmen“ gegen das Coronavirus brauchen in Deutschland. Zunächst einmal verteidigte Finanzminister Olaf Scholz (SPD) die „sorgfältig“ diskutierte Entscheidung, die Grenzen zu anderen EU-Ländern zu schließen. Vor dem Hintergrund, dass beispielsweise in Frankreich fast alle Läden und die Gastronomie dicht machten, wäre es „kontraproduktiv“, die Grenze nach Deutschland offenzuhalten.

Franzosen kommen „zum Saufen“ über die Grenze

Die Aussage von Moderatorin Anne Will, man wolle die Franzosen also davon abhalten, dass sie „zum Saufen“ nach Deutschland rüber kommen, blieb unwidersprochen. Scholz lobte den Föderalismus und dass die Entscheidungen „nicht in einer Zentralregierung“, sondern in der Absprache mit 16 Ländern dezentral getroffenen werde. Im übrigen werde am Montag in der Krisensitzung im Kanzleramt über weitere Maßnahmen entschieden: „Supermärkte, Banken und Apotheken bleiben aber auf jeden Fall offen. Die Daseinsvorsorge wird gewährleistet.“

Es war dann der Virologe Alexander Kekulé, der den Politikern ordentlich Wasser in den Wein gegossen hat: „Alle haben geschlafen“, sagte Kekulé. Die Einlasskontrollen an den Grenzen seien viel zu spät erfolgt, das gleiche gelte für die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten. Ein vor acht Wochen infiziertes Kind in München hätte laut Hochrechnung bis heute 3000 Menschen mit Corona anstecken können, sagte Kekulé, dies hätte in der weiteren Folge zu 15 Todesfällen führen können. Kekulés Ausblick: „Wir müssen zwei bis drei Wochen alles stillegen. Und dann die Hoffnung haben, dass es keine drastischere Entwicklung gibt.“ Trotz dieses Plädoyers für eine harte Linie hält Kekulé eine Ausgangssperre – wie es für Frankreich offenbar diskutiert wird – für falsch: „Es macht keinen Sinn, eine ganze Republik in der Bude einzusperren.“ Im Gegenteil. Es wäre vernünftig, dass sich beispielsweise Familien in der frischen Luft bewegten, Spaziergänge machten. Wenn sie Bekannte träfen, sollten sie halt einen Abstand von ein oder zwei Metern einhalten, das sei in Ordnung.

Laschet kritisiert die Wissenschaftler

Kekulés Politikerkritik – wiederholt vorgetragen – hat der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet (CDU), dann mehrfach – „ich sag’s jetzt zum dritten Mal“ – widersprochen. Und das Paradebeispiel mit den Schulschließungen, geschildert anhand des „Verlaufs der vergangenen Woche“, erläuterte Laschet dann ausführlich: Es sei doch so gewesen, dass die Experten des Robert-Koch-Instituts und der Berliner Charité „noch am Donnerstag eben nicht geraten“ hätten zu den Schulschließungen. „Wir hören die Wissenschaft, aber wir entscheiden schnell“, lobte Laschet die Zunft der Politiker. Nach langen Debatten im Kanzleramt habe sich die Politik bereits am Freitag für die Schulschließungen entschieden. Im übrigen würden die Menschen die drastischen Maßnahmen, auch was das Veranstaltungsverbot anbelange, gut verstehen: „Schon vor unseren Beschlüssen haben viele Privatleute Veranstaltungen mit 500 bis 600 Teilnehmern abgesagt.“ Was den grenzüberschreitenden Verkehr anbelangte, stellte Laschet überdies fest, dass Grenzübertritte von Hamster-Käufern aus Belgien nach Nordrhein-Westfalen „eigentlich nicht messbar“ seien.

Die Ware darf über die Grenze, der Mensch aber nicht?

Die Redakteurin der „Süddeutschen Zeitung“, Cerstin Gammelin, empfand es als „erschütternd“, dass in der EU künftig die Warenströme über Grenzen hinweg erlaubt sein sollen, die Bewegung von Menschen aber nicht. Man müsse eigentlich mal genau beobachten, „ob ein erhöhter Virenaustausch zwischen Kehl und Straßburg“ wirklich stattfinde. Auf das Schicksal der Wirtschaft machte Angela Inselkammer vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband aufmerksam: So eine extreme Situation wie derzeit habe es für die Branche in den letzten 200 Jahren nicht gegeben: „Wir sind nicht sicher, ob die Hälfte unserer Betriebe nach dieser Krise noch existiert. Und bei uns arbeiten immerhin 2,5 Millionen Beschäftigte.“

Wie üblich hatte Finanzminister Scholz dann am Ende der Sendung noch eine Lösung parat – und zwar für die gebeutelten Unternehmen. Auf das von Anne Will genannte Stichwort „Bazooka“ reagierte er mit seinem verschmitzten, Überlegenheit signalisierenden Lächeln und dann holte er sie auch wieder raus, die Bazooka: Er arbeite gerade „sorgfältig an einer zusätzlichen Maßnahme“, und zwar, dass die Betriebe, die jetzt monatelang Miet- oder andere laufenden Ausgaben hätten ohne Einnahmen zu erzielen, eine Förderung des Staates erhalten könnten. Das könne beispielsweise über einen Fonds der Kreditanstalt für Wiederaufbau erfolgen. Und Scholz verriet auch, dass die von der Bundesregierung beim Hersteller Drägerwerk bestellten 10 000 Beatmungsgeräte in Sonderschichten hergestellt werden. „Das wird sich über das ganze Jahr hinstrecken“, sagte Scholz und bringe die Kapazität der Firma bis ans Limit. Nach seinen Worten seien in Deutschland für medizinische Beschaffungen, darunter auch Schutzmasken, mehr als eine Milliarde Euro „mobilisiert“ worden.

In zehn Tagen wird man ein Resultat der Maßnahmen sehen

Zumindest in der Hoffnung sind Wissenschaftler und Politiker vereint. Die Intensivmedizinerin Claudia Spies von der Charité schilderte zunächst die medizinischen Herausforderungen: Man müsse die Aufnahme in den Krankenhäusern besser strukturieren, fünf Prozent der Coronavirus-Patienten bräuchten eine Beatmung. Es gebe in Deutschland aber nur 28.000 Intensivbetten, davon hätten 25.000 Beatmungsgeräte und von denen seien 80 Prozent durch andere Patienten belegt. „Wir müssen entscheiden, wohin kommt ein Patient mit Fieber, wohin kommt einer mit Atemnot.“ Normal sei eine Atemfrequenz von 14 bis 16 Atemzügen pro Minute, habe einer 24 Atemzüge, bestehe Handlungsbedarf und er brauche die Sauerstoffgabe. Spies äußerte eine Hoffnung, der sich alle anschließen konnten: „Wir haben jetzt neue Maßnahmen beschlossen. Wir werden in sechs bis zehn Tagen sehen, ob wir die steile Kurve der Neuinfektionen reduzieren können.“