In Reutlingen werden vor dem Amtsgericht Hunderte von Bußgeldverfahren wegen einer Coronademo verhandelt. Warum wird so unterschiedlich geurteilt?
Frau M. schläft schlecht, und das schon seit fast einem halben Jahr. Demnächst wird Frau M. 70 Jahre alt. Mehr als ihr halbes Leben, insgesamt 38 Jahre, hat sie in der gleichen Wohnung verbracht, hat hart gearbeitet, hat Mitmenschen und Gesetze geachtet. Heute steht sie zum ersten Mal vor Gericht. Als alles vorbei ist, da schnauft Frau M. hörbar durch. „Wissen Sie“, sagt sie zum Richter, „ich hatte so eine Angst, vor dem großen Saal, vor all den vielen Leuten hier.“ Doch dann kam alles ganz anders.
Saal II im Reutlinger Amtsgericht gehört zu den Miniaturausführungen der Orte, an denen in Baden-Württemberg Recht gesprochen wird. Gerade einmal fünf Stühle für Zuschauer stehen dort, von denen ist an diesem Mittwoch nur ein einziger besetzt. Vor wenigen Minuten hat Richter Raphael Lutz-Hill erklärt, dass Frau M. nach Hause gehen kann, dass keine weiteren Kosten auf sie zukommen, dass die Sache erledigt ist. „Ja dürfen Sie das denn?“, war ihre spontane Reaktion. Raphael Lutz-Hill darf das. An diesem Morgen hat er es gleich fünfmal getan. Verfahren eingestellt, die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse.
Die Fälle sind nur scheinbar gleich
In Baden-Württemberg gibt es 108 Amtsgerichte. Das in Reutlingen ist eines davon. Wahrscheinlich gibt es im ganzen Land gerade keinen Ort, an dem man besser sehen kann, was es bedeutet, dass Richter unabhängig sind. Wahlweise kann man auch sagen, wahrscheinlich gibt es keinen Ort, an dem man besser sehen kann, dass es auch ein wenig Glück braucht vor Gericht. Jeder Fußballer weiß, dass der eine Schiedsrichter schneller mit der Gelben Karte oder dem Elfmeterpfiff bei der Hand ist als der andere. Dass auch vor Gericht die Entscheidungen bei scheinbar gleich gelagerten Fällen unterschiedlich sein können, ist weniger bekannt. Wobei die Betonung nicht auf gleich gelagert, sondern auf scheinbar liegt.
Vor dem Reutlinger Amtsgericht wird derzeit eine wahre Flut an Widersprüchen gegen Bußgeldbescheide abgearbeitet, die allesamt ihren Ursprung an einem kalten Dezembertag des vergangenen Jahres haben. Es war Samstag, der 18. Dezember 2021. Wie jeden Samstag hatten sich Hunderte, Tausende Menschen in Reutlingen versammelt, um gegen die Coronapolitik der Bundesregierung zu protestieren. Dieses Mal allerdings war auch die Polizei stärker vertreten als normalerweise, mit Hundertschaften und mit einem Wasserwerfer. Die Demonstranten wurden eingekesselt und erkennungsdienstlich behandelt.
Rund 500 Bußgeldbescheide versendet
Am Ende hat die Stadt Reutlingen rund 500 Bußgeldbescheide verschickt. Gegen die Hälfte davon sei Einspruch eingelegt worden, sagt die Sprecherin der Stadt. Für Friedrich Haberstroh, den Direktor des Reutlinger Amtsgerichts, bedeutet das erst mal viel Organisationsarbeit. Von den 14 Richtern des Hauses sind nach einer Änderung der Geschäftsverteilung elf mit der Sache befasst. Der Berg ist noch lange nicht abgearbeitet. Mitte Juni gelten knapp 80 Fälle als erledigt.
Fälle wie die von Herrn B. 150 Euro stehen auf seinem Bußgeldbescheid, mit Gebühren sind es 178,50 Euro. Der Standardsatz. Er sei doch nur spazieren gewesen, sagt Herr B. Mit diesen Leuten habe er nichts zu tun, er sei sogar geimpft. Und dann fragt er, ob er dem Richter ein Video zeigen darf. Er darf. Zu sehen ist, wie Herr B. vor einer Wand von Bereitschaftspolizisten steht. Kein Durchkommen, heißt es hier. Deutlich ist die Durchsage der Polizei zu hören, die Menschen mögen bitte nach Hause gehen. Ebenfalls zu hören das laute Geschrei der Menschen, die um Herrn B. herumstehen. Sie wollten ja, aber das ginge nicht, rufen sie. Mithilfe eines Stadtplans erläutert Herr B., an welchen Straßen er vergeblich versucht habe, dem Kessel zu entkommen. Auch Herr B. darf das Amtsgericht ohne Rechnung verlassen. Verfahren eingestellt, sagt der Richter Lutz-Hill.
Eine juristische Hürde
Im Zusammenhang mit dem Geschehen am 18. Dezember gab es Freisprüche, Einstellungen und Verurteilungen. Denn zum einen sind die Fälle nicht alle gleich gelagert. Und die Richter stehen vor mehreren Hürden, die sie mit unterschiedlicher Technik zu überwinden versuchen. Da ist zum einen die rein juristische Seite. Die Versammlung am 18. Dezember war verboten. Und das gleich doppelt, von der Stadt und dem Landratsamt. Manch ein Amtsrichter hält die Verbote für rechtens, andere nicht. Wieder andere glauben, dass nur eines der beiden Verbote in Ordnung geht. Eigentlich wäre es eine Sache des Verwaltungsgerichts, dies zu entscheiden, aber bisher hat erst ein Betroffener dort die entsprechende Frage gestellt. Das Urteil steht noch aus. Klar ist: Richter, die das Verbot der Versammlung für rechtswidrig halten, können niemanden dafür verurteilen, an einer verbotenen Versammlung teilgenommen zu haben.
Eine praktische Hürde
Die zweite Hürde, vor der die Richter stehen, ist eine sehr praktische. Es hat tatsächlich Menschen gegeben, die nicht zum Demonstrieren, sondern aus anderen Gründen in der Reutlinger Innenstadt unterwegs waren. Es hat tatsächlich Menschen gegeben, die den Kessel verlassen wollten, aber nicht konnten. Dass es inzwischen Telegram-Gruppen gibt, in denen darauf hingewiesen wird, dass dies auch dann eine ziemlich gute Verteidigungsstrategie sein kann, wenn es nicht ganz der Wahrheit entspricht, das wissen sie natürlich auch am Gericht.
Sierk Hamann gehört zu den Richtern, die davon ausgehen, dass zumindest das Demoverbot der Stadt rechtens gewesen ist, nicht aber das des Kreises. Vor ihm sitzt eine junge Frau. Das Verfahren gegen ihren Vater wird ein paar Tage später verhandelt. „Dass hier Familien auseinandergerissen werden, liegt an unserem Computerprogramm, das erkennt so etwas nicht“, sagt der Richter.
Der Richter zweifelt an der Schilderung
Die junge Frau berichtet, sie habe die Menschenmasse gesehen und sei ein wenig mitgelaufen. Einfach so, nicht unbedingt der Sache wegen. Es ist dem Richter anzumerken, dass er der Betroffenen die inneren Beweggründe so nicht abnimmt. Das Mitlaufen allein sei ausreichend für eine Verurteilung. Auf 15 Euro reduziert der Richter den Bußgeldbescheid, schließlich handele es sich „um Verwaltungsunrecht und nicht um ein Verbrechen“. Allerdings: Die Verfahrenskosten bleiben in diesem Fall ebenfalls an der Schülerin hängen. Da sie mit einem Anwalt erschienen ist, kann es sich um einen hohen dreistelligen Betrag handeln.
Gleicher Fall, unterschiedliche Urteile: Das klingt ungewöhnlich, ist es aber nicht. Zwei Urteile vom Arbeitsgericht Nürnberg haben in dieser Hinsicht Geschichte geschrieben. Eine Firma hatte zwei Mitarbeitern gekündigt, die eine alte Betriebsküche für einen guten Zweck verkauft hatten, ohne dafür die Zustimmung ihres Arbeitgebers zu haben. Zwei Kammern des Gerichts sprachen trotz identischen Sachverhalts zwei unterschiedliche Urteile. Richterliche Unabhängigkeit ist der Justiz viel wert. Absprachen gebe es daher nicht, versichert Amtsgerichtsdirektor Haberstroh.
Der Platz des Staatsanwalts bleibt leer
Richter Raphael Lutz-Hill erklärt derweil der fast 70 Jahre alten Dame, warum eine Einstellung des Verfahrens für sie besser sei als ein Freispruch. Dann sei die Sache endgültig vom Tisch, auch die Staatsanwaltschaft könne keine Rechtsmittel mehr einlegen, so der Richter.
Die Vertreter der Anklage lassen sich in dieser Sache schon lange nicht mehr am Reutlinger Amtsgericht blicken – wenn die Betroffenen keinen Anwalt haben, was eher die Regel ist, dann sind sie mit dem Richter alleine. Ein Anwalt ist allerdings zwingend, wenn man mit der Verurteilung nicht einverstanden ist und weiter klagen möchte. Mindestens ein Betroffener hat inzwischen Rechtsbeschwerde zum Stuttgarter Oberlandesgericht eingelegt. Wann das entscheidet, ist offen.