Willi Bauer betreibt mit seiner Frau zwei Supermärkte im Großraum Stuttgart. Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Einzelhändler Willi Bauer weiß seit der Corona-Krise, wie Klopapier effektiver verpackt wird und berät junge Leute bei ihren ersten Handgriffen in der Küche. Zurzeit werden Supermärkte zu Seismographen eines gesellschaftlichen Wandels.

Stuttgart - Willi Bauer hebt ein benutztes Desinfektionstuch zwischen Klatschpresse-Magazinen auf und befördert es in den Mülleimer. Die Tücher sind als nette Geste des Einzelhändlers gedacht, doch manche Kunden schmeißen sie einfach weg. Bauer, 35 Jahre alt, blaues Hemd und dunkelblonde Haare, würde sich selbst nicht als Held bezeichnen. Doch er merkt, dass seine Akzeptanz und die seiner Mitarbeiter durch die Corona-Pandemie gestiegen ist.

Bauer betreibt mit seiner Frau zwei Supermärkte im Großraum Stuttgart. Das Coronavirus hat den gesellschaftlichen Stellenwert der Märkte erhöht - und macht vielen bewusst, wie wichtig der Einzelhandel ist. In den Märkten gibt es noch öffentliches Leben - während Restaurants, Kinos und Museen schließen mussten.

Zu Beginn der Krise seien Supermarktmitarbeiter oft in den Aufzählungen zu wichtigen Jobs vergessen worden. Dabei hielten sie den Laden am Laufen, wie Kanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache verkündete.

Normalerweise verlassen Bauers Mitarbeiter nach acht Stunden den Markt. Zurzeit sind es vereinzelt zwölf, wie er sagt. „Meine Mitarbeiter sind seit drei Wochen am Limit.“

Den Beginn der Corona-Krise kann man im Kassensystem ablesen - an der Menge der gekauften Produkte: 100 Dosen Thunfisch und sechs Packungen Toilettenpapier - bei einem einzigen Einkauf. „Nach drei Tagen haben wir erst begriffen, was hier gerade abgeht“, erzählt Bauer.

Fortan durften Kunden nur noch eine Packung Mehl oder Toilettenpapier mitnehmen. Ein Kollege aus dem Einkauf erzählte ihm, dass man mittlerweile bei der Produktion von Toilettenpapier auf die aufwendigen Haltegriffe an den Packungen verzichte - um so 20 Prozent mehr Klorollen verkaufen zu können.

Nicht nur die überhasteten Käufe sind ein Problem. Bauers Mitarbeiter sind in ständigem Kontakt mit Menschen. Zu ihrem Schutz sind inzwischen Plexiglasscheiben an den Kassen angebracht worden. Und auf dem Boden erinnern Klebestreifen die Kunden an den empfohlenen Abstand von 1,5 Metern. In Bauers Markt dürfen Kunden zudem nur mit einem Einkaufswagen kommen, um für Abstand zu sorgen.

Die Arbeit im Team läuft gut, sagt Bauer: „Ich merke einen Zusammenhalt, bei dem keiner nach Hause geht, bevor nicht alles gemacht ist.“ Also ein Hoch auf Supermarkt-Mitarbeiter? Fehlanzeige. Im Markt beschimpften Kunden sie als „Idioten“, wenn das Klopapier oder Mehl mal ausverkauft sei, sagt Bauer.

Doch seit Merkel den Einzelhandel in ihrer Ansprache erwähnte, habe sich etwas verändert. Kunden schenkten Mitarbeitern seitdem Schokolade, Blumen und Trinkgeld. Und eine Frau überließ dem Team 20 selbstgenähte Schutzmasken. Mittlerweile trudeln auch Nachrichten ein. „Handgeschriebene Briefe sind die Krönung der Wertschätzung“, sagt er und liest den Brief eines Kunden vor, in dem der sich „für die großen Verdienste“ des Teams bedankt. „Das rührt mich“, sagt Bauer.

Angst vor dem Virus hat er nicht. Doch um die Existenz seiner Läden fürchtet er trotz des aktuell guten Umsatzes. Er schläft schlecht, öffnet sein Geschäft schon morgens um sechs und schließt es um neun Uhr abends. Bauer arbeitet nicht im Büro, sondern „auf der Fläche“, wie er sagt. Er räumt Regale ein, bestellt Ware.

Die Einkaufsgewohnheiten vieler Menschen verändern sich

Hemdsärmelig läuft er durch den Markt - zwischen Schokoladen-Osterhasen und Zeitschriften. Seine Anpacker-Mentalität kommt an bei den Kunden. „Ist mein bestellter Wein schon da“, fragt eine Frau. „Die zehn Flaschen sind im Büro. Hole ich gleich.“ Bei einem Lieferengpass muss Bauer schnell handeln. Als das Mehl ausgeht, macht er einige Anrufe, und findet schließlich eine Mühle in der Umgebung, die ihn jetzt beliefert.

Die Einkaufsgewohnheiten vieler Menschen verändern sich, wie Bauer sagte. Viele wollen es sich jetzt gut gehen lassen und kaufen teure Weine und hochwertige Lebensmittel. Ein 29-Jähriger, der sonst unter der Woche oft essen geht, erzählt Bauer, dass er jetzt erst richtig das Kochen lerne. Von dem Supermarktchef wollte er einen passenden Wein zu Rouladen empfohlen bekommen. Bauer denkt, dass nach der Krise eine Art „Ent-Globalisierung“ einsetzen wird und regionale Produkte wichtiger werden. Die Kunden müssten sich genügsamer verhalten. „Erdbeeren im Winter, hundert Sorten Orangensaft und 70 Sorten Mehl - das brauchst du doch nicht“, sagt Bauer.

Sabine Hagmann vom Handelsverband Baden-Württemberg pflichtet Bauer bei. Nicht nur bei Schutzausrüstung und medizinischen Produkten habe die globale Abhängigkeit viele erschreckt.

Die Einzelhändler profitieren aktuell von geschlossenen Restaurants und Geschäften. Doch Bauer betont: „Durch das Virus sterben Menschen.“ Er wäre froh, wenn alles normal wäre - auch wenn er dann weniger Umsatz hätte. Er hofft, dass keiner seiner Angestellten positiv auf das Coronavirus getestet wird. Dann sei seine Existenz schnell in Gefahr. Er muss den Lohn für 80 Mitarbeiter und die Miete für die Läden bezahlen. „Wenn der Laden eine Woche zu ist, dann habe ich keine Chance mehr.“ Momentan packt er weiter an. Sein Telefon klingelt. Eine Kundin wolle ihn sprechen, sagt er und verabschiedet sich - leise, und ohne viel Aufsehen zu erregen.