Wir wollen an die Menschen erinnern, die an oder mit Covid-19 gestorben sind. Foto: Alessandro-Smarazzo, dpa/Peter Endig, privat, red, Tania Galanto

Zehntausende Menschen sind in Deutschland mit und an einer Coronavirus-Infektion gestorben – mehr als 8300 bisher in Baden-Württemberg. Wir wollen den Toten der Pandemie ein Gesicht geben, einen Namen, von ihrem Leben und Sterben erzählen.

Stuttgart - Wir vermissen sie – so heißt das neue Online-Portal unserer Zeitung, auf dem wir Menschen vorstellen, die durch eine Coronainfektion ihr Leben verloren haben. Dies sind zwei Porträts des Portals.

Ralf Fuhrmann (1963-2020)

Als Ralf Fuhrmann vor mehr als 30 Jahren an einem regnerischen Tag das erste Mal nach Pforzheim kam, um dort als junger Arzt am Krankenhaus zu arbeiten, sagte er am Abend: „In dieser Stadt bleibe ich ein Jahr und keinen Tag länger.“ Doch Fuhrmann, der am 19. November 2020 mit 57 Jahren an einer Covid-19-Erkrankung verstorben ist, blieb nicht nur bis zu seinem Tod in Pforzheim, sondern wurde dort zu einer lokal bekannten und vor allem beliebten Persönlichkeit. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Katja Mast sprach aus, was viele dachten: „Ralf Fuhrmann hat die Stadt mit seiner ganzen Persönlichkeit geprägt. Er hat Maßstäbe gesetzt.“ Seit 1998 betrieb Fuhrmann, der in Rastatt aufgewachsen war, in der Pforzheimer Nordstadt eine Hausarztpraxis. Niemals habe er einen Patienten getadelt, wenn dessen Lebenswandel der Gesundheit abträglich war, erzählt der Ehemann Timur Fuhrmann-Piontek. Seine eigene Leibesfülle war ja unübersehbar, aber diese nahm er mit Humor. Bei einer Demo von Rechtsextremen verdeckte er einmal mit seinem Körper ein Plakat und sagte: „Zum Glück habe ich ein so breites Kreuz.“

Während der 16 Jahre als SPD-Stadtrat und Fraktionsvorsitzender wurde Ralf Fuhrmann dafür geschätzt, einen respektvollen Umgang mit allen Mitgliedern im Gemeinderat zu pflegen. An der Christuskirche hatte er zudem lange das Amt des Vorsitzenden des Ältestenkreises inne – der Glaube trug ihn. Und er war engagiert in der Aids-Hilfe und kümmerte sich als einziger Arzt in Pforzheim um die HIV-infizierten Menschen.

Die Heirat sorgt für ein mittelstarkes Beben in der Landeskirche

Wenn Ralf Fuhrmann – wie so oft verspätet – zu einem privaten Treffen kam, dann hörten ihn alle, bevor man ihn sah: Schon am Eingang plauderte er mit dem Wirt oder einem Gast, und sein Lachen flog vor ihm her durch das Lokal. Er war beliebt, weil er sich selber nicht zu ernst nahm, weil er sozial im besten Sinne des Wortes war, weil man sich auf ihn verlassen konnte. Und weil er Menschen berühren konnte: „Nach zwei, drei Sätzen war man von seiner Persönlichkeit gefangen“, meint Timur Fuhrmann-Piontek.

Dass er schwul war, wurde erst im Mai 2015 so richtig bekannt, als er seinen Partner Timur Piontek heiratete. Diese Verpartnerung hatte in der evangelischen Landeskirche ein mittelstarkes Beben zur Folge gehabt: Da die Zeremonie wegen der 200 Gäste nicht wie damals noch vorgeschrieben in der Sakristei, sondern in der Kirche stattfand, und da die Pfarrerin die Worte „Heirat“ und „Ehe“ verwendete, protestierten zwei Dutzend Pfarrer beim Bischof. Timur Fuhrmann-Piontek ist sich sicher, dass ihre Trauung zu einer liberaleren Haltung der Kirche beigetragen hat: „Darauf dürfen wir ein wenig stolz sein.“

Wo sich sein Mann dann im Oktober angesteckt hat, weiß man nicht genau. Da Ralf Fuhrmann immer schlechter atmete, wurde er nach Heidelberg gebracht; zu dieser Zeit hatten ihn die Ärzte bereits in ein künstliches Koma gelegt. Als es zu Ende ging, durfte Timur Fuhrmann-Piontek seinen Mann einmal auf der Intensivstation besuchen. Ralf habe sehr friedlich ausgesehen, und er habe sich bei ihm für alles bedankt, und eine Seelsorgerin habe sie nochmals gesegnet. Als er im Krankenzimmer angekommen war, sei Ralf Fuhrmanns Blutdruck gefährlich niedrig gewesen, doch nach den gemeinsamen Stunden habe sich dieser fast auf einem normalen Niveau stabilisiert: „Ich weiß, dass er gespürt hat, dass ich da war.“

Hier geht es zum Online-Portal Corona-Gedenken

Gisela Schelhorn (1937 –2021)

Eine analoge Ausstellung mitten im Lockdown? Geht das? Der Stuttgarter Fotograf Lutz Schelhorn will mit „Fotos im Fenster“ im Leonhardsviertel beweisen, wie eine kulturell ausgehungerte Stadt an Kunst kommt, ohne sich in virtuelle Welten klicken zu müssen. Als der 61-Jährige die Idee dazu entwickelte – es war vor Weihnachten – lebte seine Mutter Gisela Schelhorn noch. Seine Projekte besprach er gern mit ihr. Die Klugheit, Fröhlichkeit und die Lebensweisheit seiner Mutter halfen ihm sehr. Wieder mal war die gelernte Werkzeugmacherin, die auch als Verkäuferin gearbeitet hatte, begeistert von ihrem Lutz. Je älter beide wurden, desto stolzer war sie auf ihn. Als der Sohn in jungen Jahren dem Motorrad- und Rockerclub Hells Angels beitrat, gehörte dies nicht zu den Dingen, von denen Mütter träumen. „Aber sie stand immer hinter mir“, sagt er. Lutz Schelhorn, ein gelernter KfZ-Mechaniker, brachte es bis zum Präsidenten der Hells Angels von Stuttgart.

Die Eröffnung seiner Fotoausstellung, mit der die Straßen der Altstadt zur Galerie werden, konnte die Mutter nicht mehr erleben. Die am 26. Juli 1937 geborene Gisela Schelhorn ist am 19. Januar allein in einem Cannstatter Krankenhaus gestorben. Wegen Corona durften ihr Sohn, ihre Tochter und die Enkel nicht zu ihr. Es war ein Abschied ohne letzte Umarmung.

Der Abschied auf Entfernung quält die Angehörigen

Der 61-Jährige hat die „Fotos im Fenster“ seiner Mutter gewidmet. Auf der letzten Seite des Katalogs ist ihr Bild zu sehen und ein eindringlicher Text: „Meiner geliebten Mutter, die am 19. Januar an Corona verstorben ist, ohne dass wir ihr die Hand halten konnten. Ich danke ihr für ihre Liebe, all die mir eröffneten Möglichkeiten und Freiheiten, sowie für das grenzenlose Vertrauen. Diese glückliche Jugend hat mich geprägt.“ Der Fotograf, der als Chef der Hells Angels zurückgetreten ist, hat sich eine coronakonforme Art ausgedacht, um seine Werke zu zeigen. In der Pandemie bleibt den Menschen nicht viel. Spazieren darf man in kleinen Gruppen – nun kann man mitten in Stuttgart flanieren und dabei Kultur entdecken.

Ein Abschied auf Entfernung – dies quält die Angehörigen sehr. Lutz Schelhorn rief jeden Tag im Krankenhaus an und spürte dabei, dass die gestressten Pfleger und Ärzte ihm nicht immer alles sagen konnten, was er wissen wollte. „Ihr Gesundheitszustand ist stabil“, hörte er jeden Tag – auch als es zu Ende ging. Ein Freund der Familie hatte einen Brief an die Mutter geschrieben, in dem stand, wie sehr Gisela Schelhorn von ihren Lieben verehrt wird. Den Brief gab er im Krankenhaus ab und bat, man sollte ihn der Mutter vorlesen.

Als die Mutter tot war, fand die Familie den Brief in den persönlichen Sachen, die sie aus dem Krankenhaus bekam – der Brief war noch verschlossen.

Die Toten der Pandemie: Digitale Nachrufe

Fast 73 000 Menschen sind in Deutschland an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben – täglich kommen Hunderte dazu. Hinter den Zahlen und Statistiken verschwinden die Menschen. Wir wollen den Toten der Pandemie ein Gesicht geben, einen Namen, von ihrem Leben und Sterben erzählen. Auf unserem Online-Portal erinnern wir in Nachrufen der Verstorbenen.

Wir möchten mit den Hinterbliebenen in Kontakt kommen, ihnen Gehör schenken – als Angehöriger, als Nachbarin, als Kollege oder als Freund. Einige ausgewählte Beiträge über die Verstorbenen werden wir als Nachrufe veröffentlichen. Schreiben Sie uns eine E-Mail an corona-gedenken@stuttgarter-nachrichten.de