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Contergan-Opfer legen Verfassungsbeschwerde gegen die staatlichen Rentenzahlungen ein.

Stuttgart - Wie viel darf ein Leben ohne Arme und Beine kosten? 1116 Euro im Monat. So viel sieht das Conterganstiftungsgesetz für einen Vielfachgeschädigten des wohl größten Skandals der Arzneimittelgeschichte vor. "Damit ist nicht einmal die Grundversorgung gedeckt", sagt Christian Stürmer, Vorsitzender des Stuttgarter Contergan-Netzwerks. "Die meisten Betroffenen leben auf Sozialhilfeniveau."

Der 47-jährige Jurist hält das für verfassungswidrig. Vergangene Woche ist seine 54-seitige Beschwerde beim höchsten deutschen Gericht in Karlsruhe eingegangen. "Der Staat kommt seiner Pflicht gegenüber den Contergan-Opfern nicht nach. Jeder andere Arzneimittelgeschädigte bekommt mehr Geld", so der Vorwurf.

Dass der Staat und nicht der Pharmakonzern Grünenthal für die Opfer aufkommen muss, liegt in einem Vergleich aus dem Jahr 1970 begründet. Damals lief der aufsehenerregende Prozess gegen die Herstellerfirma des Schlafmittels Contergan, durch das 10000 Kinder weltweit mit zum Teil schweren Missbildungen geboren wurden.

Im Laufe des Verfahrens einigten sich die Eltern einiger geschädigter Kinder, die als Nebenkläger auftraten, mit Grünenthal: Gegen einen Entschädigungsbetrag von 100 Millionen Mark verpflichteten sie sich, keine weiteren Schadenersatzansprüche zu erheben. Der Prozess wurde eingestellt, das Geld in die Stiftung Hilfswerk für behinderte Kinder (seit 2003 Conterganstiftung für behinderte Menschen) überführt. Diese Stiftung, in die der Bund im Laufe der Jahre weitere 320 Millionen Mark steckte, sollte für die Versorgung der Contergan-Opfer aufkommen.

"Damals ging allerdings niemand davon aus, dass wir so lange leben würden", sagt Stürmer zynisch. Das Stiftungsvermögen ist seit 1997 aufgebraucht. Seither werden alle Leistungen an die etwa 2800 ConterganGeschädigten in Deutschland aus Haushaltsmitteln des Bundes bezahlt. Mehr als 318 Millionen Euro hat der einstige Vergleich den Staat bislang gekostet.

Stürmer ist wütend darüber, dass der Gesetzgeber Grünenthal damals nicht in die Pflicht genommen hat. "Der Staat hat den Opfern jede Möglichkeit genommen, Ansprüche gegenüber ihrem Schädiger geltend zu machen, ohne für Ersatz zu sorgen", sagt er und ist sich sicher: "Dadurch erhalten wir nur einen Bruchteil von dem, was Grünenthal hätte zahlen müssen."

Bereichern wolle sich das Netzwerk mit der Verfassungsklage nicht. "Wir wollen nur genug Geld, um die Nachteile, die uns durch unsere Behinderung entstehen, ausgleichen und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können." Die meisten Geschädigten hätten zwischenzeitlich trotz der Behinderung ihren Platz in der Gesellschaft gefunden und einen Beruf ausgeübt. Doch heute, mit etwa 50 Jahren, litten sie unter Spät- und Folgeschäden.

"Wenn Sie keine Arme haben und Ihr Leben lang mit den Füßen essen, rauchen und schreiben, bekommen Sie zwangsläufig irgendwann Probleme mit der Hüfte oder der Wirbelsäule", erklärt der Orthopäde und Contergan-Spezialist Jürgen Graf aus Nürnberg. Viele seiner Patienten hätten kaputte Gelenke und so schwere Arthrose, dass sie nicht mehr arbeiten könnten. "Anspruch auf Frührente haben die wenigsten", sagt Stürmer.

Bleibt das Geld vom Bund. Je nach Behinderungsgrad gibt es zwischen 252 und 1116 Euro. "Davon müssen wir viele Leistungen bezahlen, die wir nur aufgrund unserer Behinderung in Anspruch nehmen müssen", erklärt Stürmer. Den Umbau zu einer barrierefreien Wohnung etwa. Oder eine Putzhilfe. Ein Auto bekommen nur Betroffene gestellt, die einen Beruf ausüben. "Wer aber wie ich Schäden an den Beinen hat, kommt ohne Auto nicht einmal zum Briefkasten", sagt Stürmer. Vor allem die Zukunft seiner Familie macht dem Stuttgarter Sorgen. Eine Lebensversicherung habe er nicht abschließen können. "Jemanden wie mich nimmt keine Versicherung."

2500 Euro im Monat fände Stürmer für ein Leben ohne Arme angemessen. Verglichen mit dem Ausland ein relativ bescheidener Betrag. In Großbritannien etwa beläuft sich die Contergan-Rente auf knapp 4000 Euro im Durchschnitt. Auch in Italien sind die Betroffenen besser gestellt als in Deutschland. Zwischen 2200 und 4000 Euro bekommen sie laut Stürmer.

Sollte das Bundesverfassungsgericht seine Klage abweisen, will der Jurist seinen Weg weitergehen - zur Not bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.