Birgit Weyhe Foto: Kersting

„Woraus speist sich Erinnerung?“ Das sind die ersten Worte in Birgit Weyhes Geschichte „Madgermanes“. An diesem Montag wird die Zeichnerin im Literaturhaus Stuttgart mit dem erstmals vergebenen Comicbuchpreis der Berthold-Leibinger-Stiftung ausgezeichnet.

„Madgermanes“ ist das vierte Comicbuch von Birgit Weyhe – über vier Jahre hinweg befasste sie sich mit ihrem Thema, bevor sie zu zeichnen begann und sich für den Preis der Leibinger-Stiftung bewarb. Rund 130 Seiten ihres Buches hat sie bereits fertiggestellt, gut 100 sollen noch folgen. Erscheinen wird das Buch voraussichtlich 2016 im Berliner Avant-Verlag.

Weyhe hat in ihrer eigenen Biografie gegraben und andere, vergessene Biografien entdeckt. Geboren wurde sie 1969 in München, den größten Teil ihrer Kindheit jedoch verbrachte sie in Afrika, kehrte erst nach Deutschland zurück, um zu studieren, in Konstanz und Hamburg. An ihr Studium der Literatur und Geschichte schloss sie erst spät ein Studium als Illustratorin an. Heute lebt sie in Hamburg.

Die Erinnerung an ihre eigene Kindheit führt Weyhe in ihrem neuen Buch zu ihrer Geschichte hin: Die Blütenmuster des Auftakts klären sich, plötzlich ist ein Berg da. „Die prägendste meiner frühen Erinnerungen ist der Umzug nach Uganda“ – so lautet der zweite Satz des Buches. Und die junge Erzählerin kommt ins Bild: Im Flugzeug sitzt sie, den Teddy in den Armen, der Blick müde. „Der Flug war langweilig.“ Die Bilder ziehen sich über die ganze Breite des Formates hin, Blicke auf den Landeplatz, die fremde Welt, ihre Natur, ihre Insekten: „Eine ganz besondere Mischung von Sinneswahrnehmungen, die mich durch meine ganze Kindheit begleitet hat.“

Jahre später reist die erwachsene Erzählerin von Deutschland aus nach Mosambik, in ein Land, das sie noch nie zuvor besucht hat – und doch ist ihr alles vertraut. „Was ist Heimat?“, ist die große Frage, die sie sich stellt. Ihre Verwunderung steigt, als sie in Mosambik auf Menschen trifft, die Deutsch sprechen – jene „Madgermanes“, die zu DDR-Zeiten von Ende der 1970er Jahre an als Gastarbeiter in der DDR lebten. 1990 mussten sie in eine Heimat zurückkehren, die ihnen fremd geworden war. Noch heute warten sie auf den Lohn für die Arbeit, die sie in der DDR leisteten – er sollte ihnen vollständig erst nach ihrer Rückkehr ausgezahlt werden. Sie sind Fremde im eigenen Land.

In „Madgermanes“ erzählt Birgit Weyhe von ihrer Recherche zu diesem Thema und lässt bald schon Betroffene selbst zu Wort kommen. Immer taucht sie tief hinab ins Gedächtnis ihrer Figuren, findet dort zuerst Bilder, die sich langsam zu einer Welt zu ordnen beginnen – einer Welt, die einen entscheidenden Bruch erfährt.

Birgit Weyhe geht sparsam mit den Worten um. Die Bilder sprechen für sich, erzählen von der DDR, von Plattenbauten, Deutschkursen, Verbotsschildern, von Afrika, den Masken, dem Dschungel. Männer und Frauen treten auf, berichten knapp: „Ich erinnere mich nicht“, sagt Annabelle Mbanze Rai, die ein Kleid trägt, ihre schwarzen Haare im Nacken zusammengebunden hat, die Arme vor der Brust verschränkt –, „jedenfalls nicht gerne. Bei manchen Erinnerungen ist es besser, wenn sie weggeschlossen sind. dann können sie in Ruhe verblassen.“

Weyhe zeichnet einfallsreich, assoziativ, präzise, verleiht den Menschen, die sie auftreten lässt, ein jeweils ganz persönliches, sehr glaubwürdiges Gesicht. Realismus kann hier bruchlos dem Traum, der tastenden ungefähren Erinnerung gegenüberstehen. Weyhes Comicbuch ist ein Buch der Bilder, durch das die individuelle und die kollektive Erinnerung hindurchfließen und das Brücken schlägt zwischen den Erfahrungen von Menschen unterschiedlicher Nationalität und Generation.

Die viel beschworene Graphic Novel ist für Birgit Weyhe lediglich ein Name für die längere Erzählform. „Natürlich“, sagt sie, „habe ich als Kind ‚Donald Duck‘ gelesen. Aber das hat meinen Erzählstil nicht beeinflusst.“ Beeinflusst fühlt sie sich von Marjane Satrapis Comic-Roman „Persepolis“, der von einer Kindheit im Islam und einer Flucht in den Westen erzählt. Wichtiges Vorbild war ihr auch die Berliner Zeichnerin Anke Feuchtenberger. Weshalb sie überhaupt zeichnet? „Es ist ein gutes Ausdrucksmittel“, sagt Birgit Weyhe. „Der Text erzählt, das Bild erzählt, beide erzählen im Wechsel.“