Einer, der mit seinen Geschichten fesselt: Nikita Miller Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Nikita Miller hatte mehr Jobs als Charles Bukowski. Jetzt ist er angekommen: Der Stuttgarter zeigt in der Rosenau sein erstes Solo-Programm.

Stuttgart - Wissen Sie, was eine „Juni-Wohnung“ ist? Alleinlebende, einsame alte Menschen entschlafen oft unbemerkt um Weihnachten. In der Zeit der Winterdepression. Spätestens im Juni sorgt die Hitze aber dafür, dass das ein Nachbar im Treppenhaus riecht. „Wir haben hier eine Juni-Wohnung“, hören die Entrümpler dann. Und spielen Schnick Schnack Schnuck – die Verlierer müssen das Bett hinaustragen.

Der Mann, der das im Café le Théâtre in der Innenstadt erzählt, ist zwei Meter groß, raucht Zigarre und spricht manchmal wie ein Protagonist aus einem Tarantino-Streifen. Nur, dass er im Gegensatz zu den grimmigen Gangstern mitunter auch herzlich lachen kann. Sein Lebenslauf ist mindestens so abwechslungsreich wie der von Charles Bukowski, der sich vor seiner Autorenkarriere mit allerhand Jobs herumschlug. Deshalb weiß der 31-jährige Stuttgarter Nikita Miller, was eine Juni-Wohnung ist.

Sein erstes Soloprogramm „Auf dem Weg ein Mann zu werden“ feiert an diesem Freitag Premiere in der Rosenau. Der Abend ist längst ausverkauft. Dabei kann Miller von seiner Bühnenkunst erst seit ein paar Monaten leben. Doch zurzeit hat er einen Lauf. Jüngst hat er den mit 2000 Euro dotierten Förderpreis des Kleinkunstpreises Baden-Württemberg erhalten.

Der Sitzenbleiber schließt zwei Studien ab

Den ersten Abschnitt seines Wegs ist er auf dem Land gegangen, genauer: in Ruppertshofen bei Schwäbisch Gmünd. Ein Kaff. Oder wie Miller scherzt: „Die Einwohner sind zu 90 Prozent miteinander verwandt.“ Er war vier Jahre alt, als seine Familie die auseinanderfallende Sowjetunion verließ und nach Deutschland kam.

Die Geschichten, die er auf der Bühne vorträgt, stammen hauptsächlich aus seiner Jugend. Wiederkehrende Figuren wie Viktor, Olek und Vidam, mit denen er Wodka trank und wegen derer Expertise Miller mal mit 60 Stundenkilometern überm Tempolimit geblitzt wurde („Nachts blitzen die nicht!“), gibt es wirklich. Sie heißen im echten Leben freilich anders. Wobei das echte Leben Nikita Millers nicht minder spannend ist als seine Storys. Nachdem er in der Realschule zweimal sitzen geblieben war, holte er sein Fachabitur nach und zog mit 20 nach Stuttgart, um Informatik zu studieren. Obwohl er es gehasst hat, zog er’s durch. Er jobbte in einer Gießerei, als Web-Entwickler, als Karikaturist, er verkaufte Schmuck aus einem Kofferraum. Miller: „Ich hab‘ sogar mal Käfige im Kaninchenzuchtverein geschrubbt.“ Im vergangenen Jahr hat er seinen zweiten Studienabschluss hingelegt: Philosophie. Bis zuletzt arbeitete er zudem immer wieder auch als Türsteher. Für Stuttgarter Clubs. Und auch mal für ein Bordell.

„Das war für mich mit Abstand der beste Job“, sagt der Hüne: „An der Tür war ich jemand und hatte Autorität, ich beherrsche Taekwondo und Kickboxen, war sogar mal Hochschulmeister. Mit mir wollte sich keiner anlegen.“ Wobei auch das vorkam. Hier hat er Geschichten erlebt, die man von seinen Bühnenauftritten noch nicht kennt. Sie sind, wenn überhaupt, nur retrospektiv betrachtet komisch. Blutige Nasen, gebrochene Kiefer, Schlägerbanden, Parkplatzprügeleien, Verfolgungsjagden – wenn Miller all das schildert, stockt einem der Atem. Es wird klar, warum er ein Faible für Gangster-Filme hat.

Doch wie kommt solch ein Tausendsassa auf die Idee, Komiker zu werden? „Ich saß in einer Bar in Tübingen und hab’ meinen Jungs eine Geschichte erzählt.“ Am Nebentisch lauschte der schwäbische Kabarettist Klaus Birk. Eine folgenreiche Begegnung. Der riet ihm nicht nur, auf die Bühne zu gehen. Er stellte ihm irgendwann auch seine Tochter vor – Millers jetzige Freundin.

Seit er sitzt, läuft’s besser

Als Stand-up-Comedian versteht sich Nikita Miller allerdings nicht. Er bezeichnet seine Kunst als „Comedic Story Telling“, zu Deutsch etwa: komödiantisches Geschichtenerzählen. „Den Begriff hab’ ich erfunden“, sagt er grinsend. Das passt, weil er auf der Bühne im Gegensatz zu seinen Kollegen auch gar nicht steht, sondern sitzt. Warum eigentlich? „Als ich meine Geschichten am Anfang im Stehen erzählt habe, hat kaum jemand gelacht. Irgendwann sagte mal einer aus dem Publikum zu mir, er hätte wegen meiner Größe und meiner Stimme das Gefühl, dass ich ihm gleich eins in die Fresse schlagen will.“ Seit er sitzt, läuft’s besser.

Dass sich Nikita Miller bald wieder einem neuen Berufsfeld widmet, ist unwahrscheinlich. Er ist angekommen. „Das ist voll mein Ding“, meint er und zündelt noch einmal an der Zigarre. Vergangene Woche hat er einen Kurzfilm mit dem Titel „Ratio Mortis“ bei Youtube veröffentlicht. Auch darin geht er einer besonderen Tätigkeit nach: Er spielt den Tod. Als nächstes soll ein Buch folgen, langfristig würde er gern ins Filmgeschäft einsteigen. Warum auch nicht? Geschichten kennt er jedenfalls genug. Diesem Mann stehen alle Türen offen.