Der Skandal um Claas Relotius wird aufgearbeitet. Foto: dpa/Julius Hirtzberger

Er war ein gefeierter Journalist, dann stürzte er das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ Ende 2018 in eine Krise. Claas Relotius hatte immer und immer wieder in seinen Texten betrogen. Was er heute dazu zu sagen hat.

Berlin - Der frühere „Spiegel“-Reporter Claas Relotius hat zweieinhalb Jahre nach Bekanntwerden des Betrugsskandals bei dem Nachrichtenmagazin erstmals ausführlich in einem Interview über seine gefälschten Texte gesprochen. Der Zeitschrift „Reportagen“ aus der Schweiz sagte er auf die Frage, wie viele seiner insgesamt 120 verfassten Texte in seiner Journalistenzeit korrekt waren: „Nach allem, was ich heute über mich weiß, wahrscheinlich die allerwenigsten.“ Er habe „in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht“.

Relotius drückte an einer anderen Stelle sein Bedauern aus: „Ich habe offensichtlich sehr viel Verantwortungsgefühl ausgeschaltet, am meisten gegenüber Kollegen, aber auch gegenüber realen Menschen, über die ich geschrieben habe. Ich hatte beim Schreiben nie niederträchtige Absichten, und ich wollte auch niemanden verletzen, indem ich etwas Falsches schreibe. Dass ich das getan habe, bereue ich am meisten.“

Ungewöhnlich langes Interview wurde veröffentlicht

Das Magazin „Reportagen“ veröffentlichte am Dienstag auf seiner Webseite ein ungewöhnlich langes Interview mit mehr als 90 Fragen an den früheren „Spiegel“-Reporter, der Ende 2018 die Medienbranche schwer erschüttert hatte. Relotius hatte für den „Spiegel“ Reportagen geschrieben, die fehlerhaft waren, und die zum Teil erfundene Szenen, Gespräche und Ereignisse enthielten. Er war als Journalist mit Preisen überhäuft worden und genoss hohes Ansehen. Der „Spiegel“ machte den Betrugsfall selbst öffentlich und arbeitete diesen akribisch auf. Relotius, damals Anfang der Dreißiger und für das Gesellschaftsressort tätig, hatte die Fehler laut „Spiegel“ eingeräumt. Seine Karriere bei dem Nachrichtenmagazin war vorbei. Es folgten weitere personelle Konsequenzen im Haus, das Magazin überarbeitete zudem seine redaktionellen Standards. Viele andere deutsche Redaktionen steuerten bei ihren Quellenchecks nach.

Es gibt eine offensichtliche Verbindung zwischen Relotius und dem Magazin „Reportagen“, das das Interview veröffentlichte: Er schrieb zeitweise auch freischaffend für diese Redaktion. Mit einem Text für „Reportagen“ gewann er 2013 den Deutschen Reporterpreis, das brachte ihm Aufmerksamkeit. Relotius war in seiner Journalistenzeit für mehrere Häuser tätig.

Im Editorial der neuen Ausgabe der Zeitschrift, in der das Interview in einer kürzeren Form von immerhin noch rund 20 Seiten erscheinen wird (3. Juni) und das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, heißt es: „Auch wir waren mit fünf Texten betroffen.“ Die Redaktion beschreibt mit Blick auf das Interview, dass sie sich auch gefragt habe, ob man einem „überführten Lügner“ trauen könne und ihm nicht „auf den Leim“ gehe. Das Magazin mit Sitz in Bern entschied sich für das Interview.

Ex-Reporter spricht über ganz konkrete Fälschungsfälle

„Reportagen“ erscheint alle zwei Monate und veröffentlicht Reportagen aus der ganzen Welt. Es hat nach eigenen Angaben 13 000 Abonnenten. Im Vorspann zur Online-Interview-Version schreibt die Zeitschrift: „Als Publikation, die ausschließlich Reportagen veröffentlicht, spüren wir die Nachwirkungen dieses Skandals bis heute.“ Das Interview mit Relotius entstand den Angaben der Zeitschrift zufolge in den vergangenen Wochen.

Der Ex-Reporter spricht darin detailliert über ganz konkrete Fälschungsfälle. Es geht in weiten Strecken auch um sein Leben nach dem großen Knall. Er berichtet ausführlich von seiner Therapie - das Magazin bekam nach eigenen Angaben Einblick in Dokumente wie einen Klinikbericht und erhielt auch psychiatrische Informationen. Er geht auf das Buch seines damaligen Kollegen Juan Moreno ein. Dieser hatte den Skandal gegen viele Widerstände aufgedeckt, als er Fakten zu einer Relotius-Reportage nachrecherchierte und ihn damit schließlich enttarnte. Moreno veröffentlichte im Jahr darauf das Buch „Tausend Zeilen Lüge – Das System Relotius und der deutsche Journalismus“. Die Produktionsfirma Ufa Fiction will einen Film drehen.

Nur wenige Wochen nach Erscheinen des Buchs von Moreno im Herbst 2019 war über einen Bericht der Wochenzeitung „Zeit“ bekanntgeworden, dass Relotius mit einem Anwaltsschreiben gegen den Autor vorging. Bislang blieb offen, ob es auch zu einer Klage kommen wird. Im jetzigen Interview sagte Relotius auf die Frage, warum bis heute die Klage nicht eingereicht sei: „Ich habe mich nicht in der Position gesehen, jemanden zu verklagen, ohne mich selbst meiner viel größeren Schuld zu stellen.“

„Nie Angst, nie Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen“

Relotius spricht auch über sein Leben bevor er Journalist wurde. Im Interview sagte er auf die Frage, wie die Zukunft aussehe, er habe sich zweieinhalb Jahre lang vor allem damit beschäftigt, die Vergangenheit zu verstehen. Ein großer Interviewteil dreht sich um die Umstände des Fälschens und die damalige psychische Verfassung des jungen Autors. Beispiele: „Das hemmungslose Schreiben hatte für mich eine ganz egoistische Funktion. Es hat mir geholfen, Zustände, in denen ich den Bezug zur Realität verloren habe, zu bewältigen, zu kontrollieren und von mir fernzuhalten. Schon lange vor dem Journalismus.“ Er habe diesen Beruf auf eine Art von Anfang an „missbraucht“.

An anderer Stelle: „Ich kann das nicht erklären, aber ich hatte jahrelang nie Angst, nie Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen.“ Und er führte auch aus: „Ich habe das Schreiben benutzt, um wieder Klarheit zu bekommen. Später habe ich mich nicht gefragt, ob wirklich alles so gewesen ist. Ich habe meinen Text in der Zeitung gesehen, mich daran festgehalten und hochgezogen, mich normal gefühlt. Ich hatte es ja hinbekommen, einen Text zu schreiben, der in der Zeitung stand.“ Relotius betonte an anderer Stelle: „Je größer meine Verunsicherung war, desto perfekter wurden die Texte.“

Mehrmals machte er im Interview deutlich, nicht aus karrieristischem Kalkül gehandelt zu haben. Auf die Frage des Magazins mit Blick auf die Journalistenpreise und dem Vorwurf, auf „Effekt“ geschrieben zu haben, antwortete er: „Natürlich wollte ich gute Texte schreiben. Ich habe beim Schreiben aber nicht daran gedacht, was wie irgendwo ankommt. Ich war immer nur mit dem jeweiligen Thema und mit mir beschäftigt.“