Bernhard Paul in seinem Salon. In dem historischen Wohnwagen hat der Direktor schon so ziemlich alle Menschen empfangen, die Rang und Namen haben. Foto: factum/Weise

Bis vor zwei Jahren war Ludwigsburg für Bernhard Paul kein Begriff. Inzwischen ist der Direktor des Circus Roncalli regelrecht verliebt in die Stadt. Was etwas heißen will, denn Paul kennt sich aus in der Welt.

Ludwigsburg - Die Trennung zwischen der einen Welt und der anderen besteht aus einem schlichten Lattenzaun. Mittag für Mittag und Abend für Abend stehen tausende große und kleine Menschen in beeindruckend geraden Schlangen vor dem Zaun, um in die andere Welt zu gelangen – zu dem Zelt mit den weißen und blauen Streifen, dem Clown, der vor dem Eingang mit Keulen jongliert und der Tänzerin, die Konfetti wirft. Wo es nach Popcorn riecht und nach Zauberei. In die Welt, die Bernhard Paul erschaffen hat. Offiziell heißt sie Circus Roncalli, Bernhard Paul ist ihr Direktor. Wenn er von der Welt hinter dem Zaun spricht, spricht er von seinem Biotop.

Wer ein Biotop anlegt, will etwas erhalten. Ist es also nicht nur für den Direktor ein schönes Zeichen, dass so viele Menschen den Circus Roncalli besuchen?

Urlaub bei Freunden

Bernhard Paul hat an diesem Tag bereits einen Baum im Blühenden Barock gepflanzt, einen Blauglockenbaum oder botanischer: eine Paulownia tomentosa. Er hat mit seinen Artisten das Residenzschloss besichtigt und danach mit Volker Kugel, dem Direktor des Blüba, gespeist. Bis vor zwei Jahren, als Roncalli zum ersten Mal sein Zelt dort aufschlug, war Paul die Stadt kein Begriff. Nun kommt er aus dem Schwärmen nicht mehr raus. So traumhaft das Stadtbild, so nett die Menschen, so unkompliziert die Bürokratie. „Urlaub bei Freunden“, sagt er. Was etwas heißt. Denn der Zirkusdirektor sieht ja viele Städte, auch besonders schöne. Wien zum Beispiel, sein Zelt steht dort immer vor dem Rathaus. Lübeck, wo das Gastspiel neben dem Holstentor stattfindet. Hamburg, das Roncalli den Zutritt auf die Moorweide gestattet. In Düsseldorf nistet sich Roncalli in den Rheinterrassen ein, in Köln baut er sich auf dem Neumarkt auf. Andere Zirkusse müssen sich auf Plätzen an Stadträndern rumdrücken und froh sein, wenn sie nicht vertrieben werden. Roncalli wird mit Kusshand empfangen. Aber Roncalli ist auch kein Zirkus wie die meisten anderen.

Eine lebende Legende

Bei Roncalli gibt es Künstler, die in der Luft tanzen und auf Stühlen in den Himmel klettern. Es gibt Magier, die zeigen, was magisch bedeuten kann und Clowns, von denen keiner albern ist. Es gibt mit Samt bezogene Logen, ein echtes Orchester und wahnsinnig viel Atmosphäre. Selbst die Toiletten sind in einem dieser historischen Wohnwagen eingebaut, die Paul sammelt wie ein Verrückter und restauriert. Und hinter den mehr als 10 000 Glühbirnen, die das Biotop abends erhellen, verbergen sich in Wahrheit sparsame LED-Leuchten. „Wir können die Welt nicht verändern, aber die Roncalli-Welt“, sagt Bernhard Paul, dem das Publikum bei der Premiere applaudierte, weil er, wo es geht, auf Plastik verzichtet.

Die Stühle im Salonwagen des Herrn Direktor sind eine Kreation von Gianni Versace. Der Wagen selbst natürlich eine Restauration aus Pauls Werkstatt. Außer über schöne Vorhänge, schnörkelige Lampenschirme und vertäfelte Kommoden verfügt er über eine Klimaanlage und eine Fußbodenheizung. Muss sein, wenn man die meiste Zeit des Jahres in einem Wohnwagen lebt. Also die Zeit des Jahres, in der Paul nicht im Haus auf Mallorca oder der Wohnung in Wien residiert. Siegfried und Roy wurden in dem Salonwagen schon empfangen, Udo Lindenberg, Geraldinde Chaplin, Andy Warhol, diverse Bundespräsidenten – ach, eigentlich alle von Rang und Namen. Wen man halt so kennenlernt, wenn man seit mehr als vier Jahrzehnten Zirkusgeschichte macht.

Scheitern gilt nicht

Bernhard Paul hat einen gut bezahlten Job als Artdirektor beim Nachrichtenmagazin „profil“, als er beschließt, das zu tun, was er immer schon tun wollte. Immer schon, seit er als Sechsjähriger das erste Mal im Zirkus war: Clown werden. Anno 1976 gründet er mit André Heller, diesem anderen großen österreichischen Fantasten, den Circus Roncalli. Das Duo verkracht sich, das Projekt schlittert am Konkurs vorbei – Aufgeben gibt’s für Paul nicht. Er findet verständige Geldgeber und startet neu. 1980 mit der „Reise zum Regenbogen“.

„Die Welt ist eigentlich ein Irrenhaus“, ruft Bernhard Paul in seinem Wiener Schmäh auf seinem Versace-Stuhl. Er schimpft darüber, dass Autofahrer dafür bestraft werden, dass Autobauer betrogen haben. Er regt sich auf über Klimawandel, Wasserknappheit, über Gier, die Wurzel allen Übels. Aber, das sagt Paul eben auch: „Der Zirkus muss ein Fenster aufmachen, die Leute sollen hindurch sehen und sagen ,Oh, wie schön!’“ Seit Roncalli vor 17 Tagen den Vorhang in Ludwigsburg zum ersten Mal gehoben hat, schauten gut 30 000 Zuschauer hindurch, trotz Hitze. Wahrscheinlich denkt in einem solchen Moment auch der Direktor: Oh, wie schön!

Aufhören geht nicht

Bernhard Paul betreibt das Apollo Varieté in Düsseldorf, ein Grand Café sowie den historischen Weihnachtsmarkt in Hamburg. Er schickt eine Dinnershow auf Tournee, bespielt den historischen Jahrmarkt in Aachen. Seine Artisten stechen mit Luxuskreuzern in See und wirbeln im Winter durch den Weihnachtszirkus in Berlin. Knapp 300 Mitarbeiter beschäftigt Bernhard Paul, in der Wintersaison sind es sogar an die 1000. Der Jahresumsatz seines Unternehmens liegt seinen Angaben zufolge bei mehr als 25 Millionen Euro.

71 Jahre alt ist Bernhard Paul auf dem Papier inzwischen, er hat drei erwachsene Kinder, die in, mit und von Roncalli leben. Aufhören – kann Bernhard Paul nicht. Warum sollte er auch? Warum sollte jemand freiwillig aus der Welt hinter dem schlichten Lattenzaun ausbrechen?

Der Circus Roncalli gastiert noch bis zum 12. August 2018 im Blühenden Barock.