Cihan Akar erzählt von Heilbronn als einer Stadt des Aufruhrs. Foto: Verlag/Robin Schimko

In seinem Debütroman „Hawaii“ beschreibt Cihan Acar kein Paradies, sondern ein Problemviertel in Heilbronn

StuttgartAuf der Landkarte der Weltliteratur spielt Heilbronn keine tragende Rolle. Gewiss, Kleist hat mit seinem „Käthchen von Heilbronn“ der Stadt einen großen PR-Dienst erwiesen, wenngleich der Dichter die Stadt wohl nie betreten hat. Doch nun könnte alles anders werden, nun widmet sich ein ganzer Roman der einst als hässlich-provinziell verschrienen, vom Knorr-Suppendunst überzogenen Großstadt, die spätestens seit der Bundesgartenschau 2019 allenthalben gepriesen wird. -

Davon freilich ist in Cihan Acars Debütroman „Hawaii“ wenig zu spüren. Sein Heilbronn ist eine Stadt des Aufruhrs und der scharfen gesellschaftlichen Gegensätze. Unter dem Slogan „Heilbronn, wach auf!“ scharen sich Rechtsradikale und halten mit ihrem Ausländerhass nicht mehr hinterm Berg. Eines ihrer Feindbilder ist ein im Norden gelegenes Viertel, das offiziell als „Unteres Industriegebiet“ firmiert, und im Volksmund seit Jahrzehnten – warum, weiß keiner genau – „Hawaii“ genannt wird.

Wer allein bleibt, den frisst der Wolf

In den 1980er- und 1990er-Jahren erregte das „Problemviertel“, um das Nicht-Hawaiianer einen weiten Bogen machten, als Drogen- und Kriminalitätshochburg Aufsehen. Kemal Arslan, Acars 21-jähriger Protagonist, kennt diese raue Gegend bestens. Er ist dort aufgewachsen, seine Eltern und seine Kumpel leben dort. Kemal ist Rückkehrer wider Willen. Ein paar Jahre sah es so aus, als würde er einen Traum verwirklichen, den nicht nur seine türkischen Freunde haben: Er schien Fuß zu fassen im Profifußball und bekam einen Vertrag bei Gaziantepspor, dem südanatolischen Angstgegner der Istanbuler Eliteclubs. Doch Kemals Karriere währt nur kurz; bei einem Autorennen schrottet er seinen schwarzen Jaguar und verletzt sich so schwer, dass er dem großen Fußball Lebewohl sagen muss.

Acar schickt seinen gebrochenen Helden durch ein hochsommerliches Heilbronn. Wenige Tage nur begleiten wir ihn, wie er lustlos nach Arbeit sucht, in Wettbüros sein letztes Geld verliert, im angesagten Club „Creme 21“ verkehrt und sich die Vorhaltungen seines Vaters anhören muss. Dieser beschwört ihn, sich schnell einen Job und Freunde zu suchen – gemäß dem türkischen Sprichwort „Wer allein bleibt, den frisst der Wolf“.

Showdown auf der Theresienwiese

Cihan Acars „Hawaii“ ist ein schnörkellos erzählter Roman, der erst gar nicht versucht, sprachlich zu brillieren. Mit knappen Sätzen und manchmal hölzernen Dialogen zeichnet er das Innenleben eines ratlosen Mannes nach, der viel mehr als seine Altersgenossen erlebt hat. Anfangs stehen seine persönlichen Probleme im Mittelpunkt, während er durch ein sehr reales Heilbronn zieht. Die Leuchttürme alter Hässlichkeit – Shoppinghaus und Wollhauszentrum – dürfen da nicht fehlen, und renommierte Akteure der Region – Lidl-Besitzer Dieter Schwarz und Astronaut Alexander Gerst – bekommen Nebenrollen zugewiesen. Einmal immerhin taucht Kemal im Villenviertel des Heilbronner Ostens auf. Dort oberhalb des Pfühlparks, dem „wahrscheinlich schönsten Ort der ganzen Stadt“, wohnt seine blonde Freundin Sina, die er zurückzugewinnen hofft – vergebens natürlich.

Was zu Anfang als Leidensgeschichte erzählt wird, entwickelt sich gegen Ende zu einem Showdown, der sich auf der Theresienwiese und auf der Hauptverkehrsader Allee abspielt. Denn plötzlich, als die Hitzegrade unerträglich werden, brechen die unter dem Teppich gehaltenen Konflikte hervor: Die Migranten formieren sich, um gegen die knüppelnden Neonazis zu kämpfen. Mit einem Mal brennt Heilbronn, und Kemal sieht, dass er und seine Malaisen nicht der Nabel der (nordwürttembergischen) Welt sind. Acars Roman „Hawaii“ läuft da zu großer Form auf. Und so bekommt das „Untere Industriegebiet“ dank Cihan Acar einen Platz auf dem literarischen Globus – und Heinrich von Kleist, Wilhelm Waiblinger oder Ludwig Pfau erfrischende Gesellschaft.

Cihan Akar: Hawaii. Roman. Hanser Berlin. 256 Seiten, 22 Euro.