Bachs Passionsmusiken gehören bei Chören zum vorösterlichen Standard-Repertoire. Am Karfreitag erweiterten Kay Johannsen mit der Stuttgarter Kantorei und Johannes Knecht mit dem Philharmonia-Chor in Stuttgart das Angebot um die Requien von Dvorák und Verdi, und Jörg-Hannes Hahn bot mit seinem Bachchor John MacMillans Johannespassion.
Stuttgart - „Was ist Wahrheit?“, fragt Pilatus. Die Frage könnte man auch an die Musik des Schotten John MacMillan richten. Was ist hier Wahrheit? Zumindest in der erst acht Jahre alten Johannespassion („St. John Passion“) des 1959 geborenen Komponisten liegen unterschiedlichste musikalische Sprachen, unterschiedlichste Haltungen und Ausdrucksmöglichkeiten dicht nebeneinander. Das Pathos grellglänzender Blechbläserakkorde sprengt, als Jörg-Hannes Hahn das Stück dirigiert, schier die akustischen Dimensionen der Bad Cannstatter Lutherkirche. Daneben finden sich aber auch Momente von tiefster Innigkeit. Einer moderat geschärften Harmonik auf der einen steht viel tonale Musik auf der anderen Seite gegenüber, und wenn das Stück, immer changierend zwischen expressiver Äußerlichkeit und intimer Verinnerlichung, nach allerlei Anleihen bei älterer Musik von der Gregorianik bis zu schottischer Volksmusik schließlich mit einem wortlosen Orchester-Gebet schließt, dann haben sogar Richard Wagners prominente Operntote Isolde (mit einem „Tristan-Akkord“, der immer nur fast erreicht wird) und Siegfried (mit den markanten Paukenschlägen) zwischenzeitlich ausgiebig vorbeigeschaut.
Der Bariton Wolfgang Newerla gibt in der einzigen Solopartie des Stücks einen Christus im Zustand permanenter, hoch nervöser Erregung, und überhaupt liegt während der gesamten Aufführung hohe Spannung im Raum. Dass sich diese sehr unmittelbar und packend mitteilt, ist der sauber und prägnant spielenden Württembergischen Philharmonie Reutlingen ebenso geschuldet wie dem Bachchor Stuttgart, der am Karfreitag exzellent präpariert ist und in dieser Form nicht nur die wirkungsvollen Volkschöre, sondern auch alle anderen Solopartien des Stücks glänzend meistert.
Passion als Erregungszustand
Der Sindelfinger Kammerchor braucht bei den heiklen ein- und gleichstimmigen Passagen des Evangelisten, die er im Kollektiv zu singen hat, ein wenig Zeit, um zu guter Koordination und präziser Intonation zu finden, macht seine Sache dann aber gut. Interessant sind MacMillans eigenwillige Pietà-Episoden, die auch ein wunderschönes „Lullaby“-Wiegenlied enthalten. Weniger interessant wirkt hingegen der Tänzer Gilles Welinski, der als eine Art Christus-Double, womöglich auch als ein befremdeter und unbeachteter Betrachter ohne wirklichen Mehrgewinn, staunend in härenem Gewand durch die Reihen schreitet. Innere Wahrheit hätte die „St. John Passion“ gewiss auch ohne ihn gehabt. (ben)
Da ist es, das Jüngste Gericht, Highlight jedes Requiems: Posaunen dröhnen, die Chorstimmen wogen in wildem Auf und Ab, die Feuerbrunst malend. Das „Dies Irae“ ist auch in Antonín Dvoráks Totenmesse Ort greller Tonmalerei und lustvoll krasser Darstellung apokalyptischer Zustände. Und mittendrin in der Masse kraftvoll arbeitender Musizierender: Stiftskantor Kai Johannsen, der Dvoráks Requiem am Karfreitag in der ausverkauften Stuttgarter Stiftskirche mit feinem Gespür für den großen dramatischen Bogen zu einer mitreißenden Aufführung brachte – mit über 100 Choristen der Stiftskantorei, der romantisch-riesig besetzten Stiftsphilharmonie inklusive deftigen Blechbläserblocks, einem Solistenquartett und mit der Orgel im Rücken.
Vier Töne für den Tod
Neben diesen ekstatischen Momenten gefällt Dvoráks Requiem aber vor allem wegen seines lyrischen Tonfalls, etwa der schmerzvoll-introvertierten A-Cappella-Phasen mit der Bitte um ewige Ruhe und ewiges Licht, die Johannsen mit seinem farblich fein nuancierenden Chor hervorragend vorbereitet hat. Die Männerstimmen gehen zwar im Orchester-Tutti manchmal unter in der Wucht des Blechs. Die Frauenstimmen hingegen senden durchweg satte, präzise Farben. Wohlklingend ist die Intonation der Soprane, die zum insgesamt ausgewogenen Klangbild des Abends einiges beitragen.
Im gut miteinander harmonierenden Solistenquartett sorgt Sopran Manuela Vieira für ekstatische Leidenschaft, Altistin Annelie Sophie Müller agiert mit edler Erhabenheit, und Tenor Kyungho Kim singt seinen Part sicher, locker, mit klangschöner Höhe. Bass Reinhard Mayr kämpft dagegen ein wenig mit der Tiefe.
Für den anspruchsvollen Orchesterpart – den ein Mann komponierte, der bereits acht große Sinfonien vollendet hatte – hat Kay Johannsen exzellente Musiker und Musikerinnen zusammengetrommelt. Emotional leuchtend, sehnend und seufzend agieren die Streicher, sehr präzise klingt die imposante Blechbläserfraktion mit Tuba, sensibel und farbig singend der Holzbläserblock, den Dvorák zur Schaffung von Kontrasten gelegentlich auch alleine in Szene setzt – so effektvoll wie die viertönige, seufzende Todeschiffre, mit der das Requiem beginnt und die immer wieder wie aus dem Nichts auftaucht. (vg)
Requiem als große Oper
Effektvoller geht es nicht: nicht größer in der Wirkung, nicht intimer im menschlichen Ausdruck. Mit Verdis monumentaler „Messa da Requiem“ hat der Philharmonia- Chor im Beethovensaal sein 30-jähriges Bestehen in einem wahren Festkonzert gefeiert. Vom Pianissimo-Beginn des Anfangs über die Fortissimo-Schläge des zentralen „Dies Irae“ bis hin zum ersterbenden dreifachen Pianissimo im abschließenden „Libera me“ spannte Johannes Knecht am Pult mit kluger Dramaturgie von Steigerungen und Kontrasten einen weiten Bogen, der deutlich auch von der Opernerfahrung des Dirigenten profitierte. Die Wirkung der Aufführung fußte auch auf großer Prägnanz und Präzision in Tongebung und Textaussprache beim ausgeglichen besetzten und exzellent koordinierten Chor, der trotz sehr großer Besetzung sogar in den Fugen des Sanctus und des „Libera me“ immer leicht wirkte. Das von Patrick Strub sehr gut einstudierte Christophorus-Sinfonieorchester tat es den Sängern gleich, glänzte mit genauen Bläserakzenten und mit gut gebündelten Streichergruppen, die sich nur im „Ingemisco“ und beim Cello-Vorspiel zum Offertorium ein paar Konzentrationslücken und intonatorische Aussetzer leisteten.
Gemischte Eindrücke vermittelten die Solisten: Während Adam Palka stimmschön, expressiv und sehr präzise sang („Confutatis“), während Taxiarchoula Kanata ihre Partie mit der Glut von Verdis großen Opern-Mezzosopranen belebte, mangelte es dem Tenor Ferdinand von Bothmer an geschmeidiger Italianità, und seine schlecht eingebundene Höhe wirkte eng. Anstrengung in den oberen Regionen prägte leider auch die ansonsten ausdrucksstarke und farbreiche Gestaltung der Sopranistin Karine Babajanyan; ihr finaler Oktavsprung zum hohen b am Ende des „Lux aeterna“ landete fast einen Halbton zu tief. Für die Gesamtleistung beim gelungenen Geburtstagsfest gab es dennoch langen, begeisterten Beifall. (ben)