Durch die Schweiz Chiles: Auf dem Rücken von Pferden lässt sich die traumhaft schöne Landschaft bei Pucón intensiv erleben. Von fern grüßt der schneebedeckte Gipfel des Vulkans Villarrica. Foto: Eichmüller

Chile verbinden Touristen mit der Atacama-Wüste im Norden, Patagonien im Süden und der Osterinsel im Pazifik. Dabei gibt es so viel mehr.

Pucón - Emilio prüft, ob die Windel richtig sitzt. Der Bergführer zieht den losen Gurt am Oberschenkel stramm. Dann klopft er anerkennend auf die Schulter, grinst und wünscht „viel Spaß“. Es wartet die vermutlich längste Rutschbahn der Welt. Nachdem die Wanderer mehr als fünf Stunden über Firnfelder und immer steiler werdende Hänge auf den 2840 Meter hohen Vulkan Villarrica gestapft sind, geht der Abstieg deutlich schneller. In rasender Fahrt wird auf dem verstärkten Hosenboden gerodelt. Vier Kilometer abwärts durch Eis und Schnee. Gebremst wird nur mit dem Pickel, der mit ganzer Kraft in den Untergrund gerammt werden muss. Wo die Hangneigung nachlässt, verleiht ein untergeschobener Rutschteller aus Plastik neuen Schwung.

Am Ende fährt sich die Rutschpartie im weichen Schneematsch fest. Erst als das Adrenalin aus dem Körper weicht, merken die Bergwanderer, dass die wasserdichten Überhosen und die Rutschwindeln ihren Dienst versagt haben. Alle sind bis zu den Hüften durchnässt. Nur gut, dass auf dem Rückweg durch die Lavafelder die Sonne etwas wärmt. Die Tage zuvor hatte sich der Vulkan hinter Wolken versteckt. Pucón, der Touristenort am Villarrica-See, in dem vor allem Chilenen Urlaub machen, war damit zeitweise seiner Hauptattraktionen beraubt.

Die jüngste Lavazunge stammt von 1998

Doch dann räumte endlich ein Hochdruckgebiet aus dem nahen Argentinien die Sicht auf den Gipfel frei. Mehr als 2500 Meter über dem Ort wuchs ein schneebedeckter Bilderbuchberg aus dem Dunst. Ganz oben mit einem zarten Rauchwölkchen. Der Villarrica gilt als wohl aktivster Vulkan Chiles. Dabei steht die Ampel am Rathaus von Pucón, die vor einem drohenden Ausbruch warnen soll, seit gut zehn Jahren auf Grün. Doch die Menschen hier wissen, welche Gefahr im Berg schlummert. Nicht umsonst nennen die Mapuche, die indianischen Ureinwohner, den Berg Rucapillan, „das Haus des Teufels“. Beim Aufstieg können die Wanderer die Zerstörungskraft des Vulkans erahnen. Der Weg führt vorbei an den Resten einer Bergstation, die 1971 von der Lava zerstört wurde. Die jüngste Lavazunge stammt von 1998. Wenige Meter unter dem Gipfel wird der Wind so stark, dass der Bergführer dagegen anschreien muss.

„Der Wind steht günstig“, brüllt Emilio. Der Sturm treibt den Schwefeldampf aus dem Krater von uns fort. Die Atemschutzmaske kann im Rucksack bleiben. Trotzdem wagt sich am Kraterrand niemand nach vorn, um einen Blick auf die tief unten brodelnde Lava zu werfen. Die Böen sind unberechenbar. Vor der Rutschpartie bleibt nur ein kurzer Blick in die Runde. Die „Siete Lagos“, die sieben Seen, sind unten zu erahnen, am Horizont recken sich mehrere aktive Vulkane in die Höhe, darunter Llaima, Lanin, Choshuenco und Quetrupillan. Wer als Nächster ausbricht, weiß keiner. „Jeder kann es sein“, sagt Emilio, „chilenische Vulkane sind unberechenbar.“

Wie zerstörerisch sie sind, mussten die Bewohner des Dorfs Conaripe am Südhang des Berges 1964 erleben. Eine gewaltige Mure riss den Ort weg. Vom Lärm geweckt, konnte sich bis auf 20 alle Bewohner retten. Heute ist Conaripe neu erbaut und Ausgangspunkt einer 15 Kilometer langen Schotterstraße, an der mehrere heiße Quellen austreten. Die spektakulärste Anlage sind die Termas Geometricas, die der chilenische Stararchitekt German del Sol direkt in eine steile Schlucht gebaut hat. Rote Holzstege führen zu Thermalbecken. Abkühlung bieten Wasserfälle, die mit sieben Grad Celsius in die Schlucht stürzen. Heiß ging es im Gebiet zwischen den Vulkanen und dem Pazifik immer schon her, auch in den vergangenen Jahrhunderten.

Ureinwohner erhalten erst seit kurzer Zeit mehr Rechte

Das Gebiet, das im modernen Chile Region IX oder Araukanía heißt, war und ist das Hauptsiedlungsgebiet der Mapuche. Diese Ureinwohner widerstanden erfolgreich den Eroberungsversuchen der Inkas, später holten sich bei ihnen die Spanier 300 Jahre lang blutige Niederlagen. Erst im 19. Jahrhundert, als europäische Siedler in Massen in die Gegend mit dem mitteleuropäischen Klima strömten, gerieten die Ureinwohner in die Defensive. Ihre Wälder wurden abgeholzt, sie in Reservate verbannt. Seit kurzer Zeit erkennt der Staat ihnen mehr Rechte zu. Viele nehmen das nicht für bare Münze. Immerhin: Die neue chilenische 100-Peso-Münze zeigt eine Mapuche-Frau mit traditionellem Schmuck. Die Tradition hält auch Irma Epulef hoch. Ihr Vorfahre, der Kazike Epulef, hatte 1883 das Jahrhunderte umkämpfte Gebiet von Araukanien an die Chilenen übergeben. Die alte Frau aus der Häuptlingsdynastie serviert in ihrer Ruca, der traditionellen Holzhütte, einen angegorenen Saft aus Wasser und zerstoßenem Weizen. Vor dem offenen Feuer schlägt sie die Kultrun, die heilige Trommel, und singt Lieder auf Mapudungun, der Sprache ihrer Vorfahren. Dann erklärt Irma auf Spanisch die Farben ihres traditionellen Gewandes.

Blau steht für den Himmel, Gelb für die Sonne, Grün für die Natur, Weiß ist das Symbol für die eisigen Vulkangipfel. „Rot aber steht für das Blut der Mapuche, das seit 1550 im Kampf gegen die Spanier immer geflossen ist.“ Heute kämpfen die Mapuche andere Schlachten. Ihr Widerstand richtet sich gegen Pläne aus der Hauptstadt, die reißenden Flüsse ihrer Stammesgebiete für die Stromerzeugung aufzustauen. Es geht um Flüsse wie den Trancura und den Liucura, die in den Villarrica-See münden. Der Glanz, den die Sonne auf die sprudelnden Gebirgsbäche zaubert, heißt bei den Mapuche Antilco. So hat Matthias Boss auch seinen Reiterhof am Liucura genannt. Vor 15 Jahren ist der Kfz-Meister aus Hessen nach Chile ausgewandert und hat auf weniger PS umgesattelt. Mit breitkrempigem Hut, Jeansjacke und Lederchaps an den Beinen wirkt Matthias wie ein Cowboy.

Doch er treibt keine Rinder, sondern führt auf dem Sattel seiner robusten Criollos chilenos Touristen durch eine traumhaft schöne Landschaft, die nicht umsonst die Schweiz Chiles genannt wird. Am Horizont, einen halben Tagesritt entfernt, zeichnet sich vor blauem Himmel friedlich der Vulkan Villarrica ab. Zu friedlich für Gabriela. Die Reitführerin treibt mit heftig geschwenktem Cowboyhut ihr Pferd zu wildem Galopp an. Da müssen die anderen hinterher. Die Amateure haben alle Hände voll zu tun, sich im Sattel zu halten. Fast wie bei der wilden Rutschpartie am Vulkan. Gabriela reitet wie der Teufel. Da bleibt keine Zeit, zum Berg zu schauen. Dabei liegt das Haus des Teufels friedlich da. Nicht einmal das zarte Rauchwölkchen über dem Gipfel ist zu sehen.

Infos zu Chile

Anreise
Mit dem Flugzeug nach Santiago de Chile. Die chilenische Fluggesellschaft LAN fliegt von Frankfurt mit Zwischenlandung in Madrid. Gesamtflugzeit 17 Stunden, Preis Hin- und Rückflug etwa 1700 Euro. Günstigere Flüge sind mit mehreren Zwischenlandungen länger unterwegs. Von Santiago de Chile einstündiger Inlandsflug nach Temuco.

Unterkunft
Das beste Haus in Pucón ist das Designhotel Antumalal, in dem Pinochet ebenso zu Gast war wie Königin Elizabeth II. (DZ mit Frühstück 195 bis 250 Euro), www.antumalal.com . Es gibt im Ort und in der Umgebung auch günstige Hostels und Privatunterkünfte (auch bei Mapuche) ab 15 Euro (Doppelzimmer) und etwa 45 Euro (Ferienhäuser).

Essen und Trinken
Die Speisekarte bietet Meeresfisch, Fleisch von freilebenden Rindern und Gerichte der Mapuche. Getränkespezialität ist Pisco Sour: Traubenschnaps Pisco, Limettensaft, Zuckersirup und Eiklar.

Allgemeine Informationen
www.turismochile.com, www.chile.travel