Seit Wochen toben Straßenschlachten in Caracas. Nur die Bewohner der Slums halten noch zu dem Regime von Präsident Maduro. Foto: AP

Im sozialistischen Venezuela werden die Proteste gegen Präsident Maduro immer heftiger. Beobachter sehen das Land am Rande des Bürgerkriegs.

Caracas - Als der Polizeihubschrauber bedrohlich tief in der Luft über der Menschenmenge stehen bleibt, verliert auch Juan Pérez für einen Moment die Fassung. „Verschwindet, ihr Hurensöhne“, ruft der 45-jährige Angestellte und reckt den ausgestreckten Mittelfinger in die Höhe. Tausendfach wiederholt sich die Geste an diesem Mittwochnachmittag auf der Stadtautobahn Francisco Fajardo von Caracas. Andere Demonstranten halten dem Helikopter die venezolanische Flagge entgegen, als wollten sie sagen, wir sind die Patrioten und nicht ihr.

Ein paar hundert Meter weiter liefern sich Jugendliche aussichtslose Gefechte mit Panzerwagen und hochgerüsteten Polizisten und Nationalgardisten. Sie werfen Steine und bekommen Tränengasbomben als Antwort. Alle paar Minuten prescht ein Motorrad mit Sanitätern durch die Menge. Auf dem Sozius kauern Blutende, Bewusstlose und Verletzte aus der ersten Reihe.

„Keine Unterdrückung mehr“ fordern die Demonstranten

Es ist Tag 40 der neuesten Protestwelle gegen die autoritäre Regierung von Nicolás Maduro. Und es ist irgendwie business as usual in diesen aufgewühlten und wütenden Wochen in Venezuela.   Jeden zweiten Tag marschiert die Opposition gegen Maduro auf. Mal sind es die Studenten, mal die Frauen, dann wieder alle.   „Zur Verteidigung unserer Verfassung“ lautete das Motto der Demo am Mittwoch und richtete sich wie so vieles in diesen Wochen gegen die von der Regierung geplante Verfassunggebende Versammlung. Sie solle einen Dialog aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte ermöglichen. Für die Opposition ist die „Constituyente“ nur ein Schachzug, mit dem die Regierung die demokratischen Spielräume in Venezuela einengen und die Opposition ausschalten will.   In ganz Venezuela gingen am Mittwoch Menschen mit Flaggen, in weißen T-Shirts, aber auch mit Helmen, Atemschutzmasken und Pflastersteinen sowie Molotow-Cocktails auf die Straße. „No más represión“, stand auf einem Spruchband in Caracas. Keine Unterdrückung mehr.

Aber dieser bisher letzte Protesttag war ein besonders gewalttätiger. Im Viertel Las Mercedes starb ein 27-Jähriger durch ein Polizeigeschoss, rund 100 Menschen wurden verletzt. „Wieder ein Toter dank Deines krankhaften Machtbedürfnisses, Nicolás Maduro“, schrieb der Oppositionsführer Henrique Capriles über den Kurznachrichtendienst Twitter.

Die Strategie der Opposition fordert die ersten Toten

  Für Juan Pérez war das am Mittwoch erst die vierte Demonstration in den fast anderthalb Monaten, die der Aufstand in Venezuela schon andauert. Pérez nahm Frau und Kinder mit, alle mit Baseballmütze in den Farben der venezolanischen Flagge. „Wir sind hier, weil wir reden und fragen wollen, was dieser Quatsch mit der Constituyente soll. Und die schießen einfach mit Tränengas auf uns“, sagt er ungläubig.

  Für die Führer des Oppositionsbündnisses MUD ist nach Jahren der Auseinandersetzung mit der Regierung jetzt der entscheidende Moment gekommen. „Wir stehen vor einem historischen Richtungswechsel“, sagt Capriles, der als Präsidentschaftskandidat sowohl gegen Hugo Chávez als auch gegen Maduro verlor. „Nie haben wir so eine Unterstützung wie heute gehabt. 80 Prozent der Venezolaner wollen einen Richtungswechsel.“ Selbst die Menschen aus den Regierungshochburgen seien auf der Straße, betont Capriles. Aber es ist eine teure Strategie. Davon zeugen schon die 41 Toten in 40 Tagen. Am Mittwoch starb in Mérida im Westen Venezuelas auch noch ein Moped-Taxifahrer, der verwundet worden war. Für Regierung und Opposition geht es um die Zukunft des Landes, die beide Seiten durch die jeweils andere zerstört sehen. Seine Gegner sagen, Maduro plane den Umbau in einen sozialistischen Staat und die Abschaffung der repräsentativen Demokratie. Die Regierung entgegnet, die Opposition wolle den Präsidenten mit Hilfe externer Mächte stürzen. Für Kompromiss ist kein Platz.

Beide Seiten sind zunehmend gewaltbereit

  Manche glauben, das Land stehe kurz vor einem Bürgerkrieg. Doch dafür sind derzeit die Kräfteverhältnisse zu unterschiedlich. Die Opposition hat keine Waffen, setzt auf eine prinzipiell friedliche Lösung, auch wenn es nach Aussagen von Experten zunehmend gewaltbereite und aus dem Ausland unterstützte Kräfte im Lager der Regierungsgegner gibt. Aber offiziell will die MUD vor allem Präsidentschaftswahlen, eine bessere Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln, die Freilassung der politischen Gefangenen und den Respekt für die von der Opposition dominierte Nationalversammlung. Aber eine Verfassunggebende Versammlung hält sie ebenso wie fast alle politischen Experten für den letzten Schritt zu einer „konstitutionellen Diktatur“ in Venezuela.  

Wie aber kann sich der ehemalige Busfahrer Maduro, den Hugo Chávez vor seinem Tod vor vier Jahren per Fingerzeig zu seinem Nachfolger berufen hatte, noch im Amt halten? Angesichts von galoppierender Geldentwertung, fehlender oder dramatisch teurer Lebensmittel, einem Gesundheitsnotstand und einer zum Zerreißen polarisierten Gesellschaft? Die Antwort darauf findet sich an mehreren Orten, wie etwa mitten im Geschäftsviertel Chachao von Caracas. Während auf der nahen Verkehrsachse Francisco Miranda die Tränengasbomben fliegen, sitzen Geschäftsleute und Sekretärinnen ein paar Blocks entfernt bei Frikadellen und Sommergemüse beim Mittagstisch und diskutieren über die Vorzüge des neuen iPhones.

Die Ärmsten halten zum Regime – sie verdanken ihm viel

  Umfragen zufolge will zwar fast jeder Venezolaner einen Regierungswechsel, aber nur rund 34 Prozent der Menschen identifizieren sich mit der Opposition. Einem Drittel der Venezolaner sind weder Maduro noch seine Gegner geheuer. Insgesamt, so der Politologe Nicmer Evans, gingen gerade mal zwei Prozent der Bevölkerung auf die Straße.

Wenn man wissen will, warum sich Maduro noch im Amt hält, muss man auch Menschen wie Aura Castro besuchen. Die 60 Jahre alte ehemalige Schneiderin wohnt in einer Blechhütte an einem Abhang in Nuevo Horizonte, einem Armenviertel von Caracas. Es ist eine Gegend, wo man auch tagsüber Zeuge eines tödlichen Raubüberfalls auf offener Straße wird. Aura Castro ist eine schmale Frau mit Zopf und einem gewinnenden Lächeln. Aber wenn es um Nicolás Maduro geht, dann wird sie plötzlich ganz ernst und entschieden. „Natürlich verteidige ich ihn, wenn sie ihn stürzen wollen, dann gehe ich auf die Straße“. Castro sagt, für sie habe der Chavismus nur Gutes gebracht.   Sie bittet den Besucher auf einen schwarzen Sessel in dem Wohnraum, der kaum größer als drei Quadratmeter ist. Küche und Schlaftrakt sind durch Vorhänge abgetrennt. „Aber wir haben Wasser, Strom, alles dank der Revolution“. Und bald bekomme sie auch eine neue würdige Bleibe, wo sie nicht Gefahr laufe, gemeinsam mit ihrem Neffen und den beiden Enkeln beim nächsten Regenguss den Abhang hinabgespült zu werden.  

Die Sozialprogramme sind Maduros stärkste Waffe

Wenn Menschen wie Castro von der Revolution reden, dann meinen sie die Zeit seit 1999, als Hugo Chávez an die Macht kam und das Land mit Dutzenden von Sozialprogrammen überzog: Projekte im Gesundheits-, Bau- und Bildungssektor, alle zusammen eine Art paralleler Sozialstaat.   Aura Castro zeigt stolz eine kleine Geldkarte in den Farben der venezolanischen Flagge mit Chip und Maestro-Zeichen. Es ist die Karte für die „Hogares de la Patria“, die patriotischen Haushalte. Damit können Bedürftige 70 000 Bolívares jeden Monat bei der Staatsbank abheben. Je nach dem, ob man zum offiziellen oder zum Schwarzmarktkurs umrechnet, sind das 100 oder 14 Euro. Wenn man bedenkt, dass ein Liter Milch auf dem Schwarzmarkt bis zu 3500 Bolívares kosten kann, ist es sehr wenig Geld. Aber diese Sozialleistungen sind die Basis, auf der Chávez und vor allem heute Maduro noch seine Zustimmung baut. 600 000 Familien sind in das Programm eingeschrieben. Das sind diejenigen Venezolaner, die dem Präsidenten noch immer das politische Überleben sichern.  

Nicmer Evans muss bitter lächeln, wenn er die Geschichte von Aura Castro hört. „Das ist alles, was Maduro noch geblieben ist“, sagt er. Wie so viele hält er Maduro für einen Scharlatan auf dem Weg zu einem Diktator. „Noch ist er ein Autokrat “, sagt Evans in seinem spartanisch eingerichteten Büro im Zentrum von Caracas. „Aber wenn er sich mit der Verfassunggebenden Versammlung durchsetzt, dann haben wir den nächsten Diktator in Lateinamerika.“