Cem Özdemir wurde in Hannover mit minutenlangem Applaus verabschiedet. Foto: dpa

Nach fast zehn Jahren verlässt Cem Özdemir die Spitze der Grünen. Besonders die Verabschiedung durch Winfried Kretschmann geriet dabei zur Lobeshymne auf „den Cem“ – und dürfte Balsam für die Seele des 52-Jährigen gewesen sein.

Hannover - Diese Rede, dieser minutenlange Applaus müssen ihm runtergehen wie Öl. Cem Özdemir hat schließlich schwierige Wochen hinter sich. Früh hat er erklärt, dass er nach fast zehn Jahren als Bundesvorsitzender nicht erneut kandidieren will. Als der Mann, der den Grünen als Spitzenkandidat ein unerwartet gutes Bundestagswahlergebnis bescherte, dann nach dem Vorsitz der Fraktion griff, zeigten die ihm jedoch die kalte Schulter. Nun, an diesem Freitagabend, ehrt die Partei ihren scheidenden Chef zum Auftakt der Bundesdelegiertenkonferenz in Hannover mit Ovationen im Stehen. Die ebenfalls ausscheidende Grünen-Chefin Simone Peter wird vom früheren CDU-Umweltminister Klaus Töpfer geehrt – Özdemir kommt in den Genuss einer Laudatio des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.

Dessen Ansprache gerät schnell zur politischen Liebeserklärung. Er nennt es eine „atemberaubende Story“, wie aus dem Erstklässler Cem mit einer Fünf in Deutsch ein „Gesicht für Migration und Integration in Deutschland“ und „eines der wichtigsten Rollenvorbilder“ wurde – und dazu noch „die grüne Stimme im Dialog mit der Wirtschaft“. Sein „Meisterstück“ seien die Sondierungsgespräche für eine „Jamaika“-Bundesregierung mit vielen grünen Inhalten gewesen.

„Cem hat die Partei ab und zu geärgert“

Wirklich absehbar war die Entwicklung nicht im Herbst 2008, als Özdemir zum Bundesvorsitzenden gewählt wurde. Sein eigener Landesverband hatte dem Rückkehrer aus Brüssel, wo er nach der Bonusmeilen-Affäre einen politischen Neuanfang gestartet hatte, gerade einen sicheren Listenplatz verwehrt. Ohne Abgeordnetenmandat tat er sich in den ersten Jahren schwer, als Parteichef Gehör zu finden.

Das änderte sich erst nach seiner Wahl in den Bundestag 2013. Er fand seine eigene Stimme, etwa, als er sich für Waffenlieferungen an die Gegner der IS-Terrormiliz aussprach, weil diese nicht „mit der Yogamatte unter dem Arm“ besiegt werden könne. „Cem hat die Partei ab und zu geärgert“, sagt Kretschmann, „aber die Partei hat es auch Cem nicht immer leicht gemacht.“

Ein Höhepunkt der vergangenen Jahre für Özdemir war die Armenien-Resolution des Bundestags, mit der er in gewisser Weise die Arbeit seines ermordeten Schriftstellerfreundes Hrant Dink fortführte. Weil er auch sonst nicht mit Kritik an der türkischen Regierung gespart hat, begleiten ihn Schutzbeamte des Bundeskriminalamts bis heute auf Schritt und Tritt. Er wisse, so Kretschmann, „was das für Cem und seine Familie bedeutet“.

„Von der Sorte haben wir nicht allzu viele“

Aus den Worten, die der in Umfragen beliebteste Grüne über den zweitbeliebtesten verliert, spricht einiges Unverständnis darüber, dass Özdemir nicht an die Fraktionsspitze rücken durfte. Özdemir sei ein Publikumsmagnet: „Er sorgt dafür, dass das Zelt auch voll wird – und von der Sorte haben wir nicht allzu viele!“ Und so mahnt der Ministerpräsident seine Partei, in Zukunft nicht leichtfertig auf das „Ausnahmetalent“ Özdemir zu verzichten: „Wir werden ihn noch lange brauchen.“ Und an den hochgelobten 52-Jährigen richtet er eine fast flehentliche Bitte: „Mach weiter, Cem“.

In der nächsten Woche könnte Özdemir im Bundestag immerhin zum Vorsitzenden des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur werden. Seinen Nachfolgern an der Parteispitze gibt er in Abwandlung eines Zitats von Platon, den „der Winfried sicher noch persönlich gekannt hat“, eines mit auf den Weg: „Versucht, es vielen recht zu machen, aber besser nicht allen.“