Ein spanischer Helfer rettet 2015 ein Kind, das auf einem sinkenden Schiff unterwegs war, aus dem Mittelmeer. Foto: AFP

Der CDU-Politiker Friedrich Merz hat das deutsche Grundrecht auf Asyl zur Disposition gestellt, da es eine europäische Lösung behindere. Was ist dran an diesem Argument?

Stuttgart - Die Migrationspolitik spielt im Wahlkampf der Kandidaten für den CDU-Vorsitz eine zunehmend große Rolle. Jetzt hat Friedrich Merz das deutsche Grundrecht auf Asyl zur Disposition gestellt, da es eine europäische Lösung behindere. Was ist dran an diesem Argument?

Was hat Friedrich Merz genau gesagt?

Bei der dritten Regionalkonferenz der drei Bewerber am Mittwochabend im thüringischen Seebach sagte Merz, er sei „seit langer Zeit der Meinung, dass wir bereit sein müssten, über dieses Asylgrundrecht offen zu reden, ob es in dieser Form fortbestehen kann, wenn wir ernsthaft eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik wollen“. Wenn man ein neues EU-Asylsystem aufbaue, „bleibt immer noch für jeden, der nach Deutschland kommen will, jenseits aller europäischen Lösungen, das Individualgrundrecht auf Asyl in Deutschland“. Deshalb müsse man, so Merz, „einen Gesetzesvorbehalt in das Grundgesetz hineinschreiben“, der gemeinsame europäische Asylregeln höher gewichte. Am Donnerstag behauptete Merz auf Twitter, er habe mit seinen Aussagen „das Grundrecht auf Asyl selbstverständlich nicht in Frage“ gestellt.

Ist das Ansinnen neu?

Diese Forderung ist weder neu, noch steht Merz mit ihr alleine – auch nicht in den Reihen der Union. So hat zum Beispiel EU-Kommissar Günther Oettinger vergangenes Jahr eine Änderung des Artikels 16 Grundgesetz gefordert. Er wünschte sich einen Verweis auf übergeordnetes EU-Recht, nach dem sich Verwaltungs- und Gerichtsverfahren orientieren sollen. Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte solche Forderungen bereits 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegungen formuliert.

Was ist besonders am deutschen Recht?

Nicht als einzige, aber als eine der wenigen Verfassungen eines Landes sichert das Grundgesetz grundsätzlich jedem politisch Verfolgten unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Asyl zu. Als politisch verfolgt gilt ein Mensch, der wegen seiner politischen Überzeugung, seiner Religion, Nationalität, Rasse oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt ist oder verfolgt wird. Es besteht ein individueller Anspruch, der einklagbar ist. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes zogen damit die Konsequenz aus den Vertreibungen im Dritten Reich. Sie hatten jedoch besonders eine mögliche Fluchtbewegung im Blick, nämlich die aus der sowjetischen Besatzungszone. Das Grundrecht auf Asyl ist 1993 mit dem hoch umstrittenen sogenannten Asylkompromiss geändert worden, welcher den Anspruch auf Asyl durch die Einführung der sogenannten sicheren Drittstaaten einschränkte.

Prüfen andere Länder keine Einzelfälle?

Kein europäischer Staat darf verfolgte Menschen zurückweisen – auch wenn das Asyl in seiner eigenen Verfassung nicht ausdrücklich erwähnt wird. Dazu verpflichtet die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die eine Prüfung eines möglichen Flüchtlingsstatus vorsieht und auch den Zugang zu Gerichten regelt. Neben dieser völkerrechtlichen Verpflichtung hat sich die EU in der Grundrechtecharta, die 2009 mit dem Lissaboner Vertrag rechtswirksam und einklagbar wurde, ausdrücklich zum Schutz von Verfolgten bekannt. „Das Recht auf Asyl wird“, so heißt es dort in Artikel 18 mit Bezugnahme auf die Genfer Konvention, „gewährleistet.“ Das deckt nach Ansicht der Flüchtlingsschutzorganisation Pro Asyl „den wesentlichen Gehalt des deutschen Asylrechts ab“.

Wie relevant sind die Asyl-Zahlen?

Der Grundgesetzartikel 16, auf den sich Merz bezieht, ist für die Zahl der anerkannten Flüchtlinge in Deutschland kaum von Belang. Auf dieser Grundlage sind vergangenes Jahr 4359 und damit nur 0,7 Prozent aller 603 428 Asyl-Entscheidungen positiv beschieden worden. Nach den Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wurde in den ersten zehn Monaten des laufenden Jahres nur in 2403 von 186 886 Fällen „klassisches“ Asyl für politisch Verfolgte gewährt – was einer Anerkennungsquote von 1,3 Prozent entspricht. Eine viel größere Rolle spielt der internationale Schutz durch die Genfer Konvention, der die Gesamtquote der anerkannten Flüchtlinge deutlich steigert – nämlich auf 20,5 Prozent 2017 und 17,9 Prozent in den vergangenen zehn Monaten. Weitere 16,3 (11,5) Prozent erhielten einen subsidiären, also vorübergehenden Schutzstatus, der derzeit vorrangig Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien gewährt wird. Insgesamt sind im Ausländerzentralregister lediglich 10 088 nach Artikel 16a Grundgesetz anerkannte Asylberechtigte geführt, in Baden-Württemberg sind es ganze 529.

Blockiert das Grundgesetz die EU?

Die EU-Kommission sieht im Hinblick auf die sieben Gesetze, die die Basis für das neue EU-Regelwerk bilden sollen, keine Einschränkungen durch das Grundgesetz. Dazu gehören vereinheitlichte Standards im Asylverfahren selbst, eine besser verzahnte Datenbank, um Wanderungsbewegungen innerhalb der EU-Staaten zu erschweren, eine Angleichung von Sozialstandards und Sanktionsmöglichkeiten, ein Rückkehrmanagement sowie die Aufwertung der EU-Asylagentur auf Malta, die in Krisenlagen zu einer Art europäischem Bamf werden soll. Weil Teil des Pakets auch eine Art Quotenlösung bei der Verteilung ankommender Flüchtlinge ist, blockieren mehrere osteuropäische Staaten bisher die Reform des sogenannten Dublin-Systems. „Für eine Verfassungsänderung sehe ich derzeit keine Notwendigkeit und auch keine Mehrheit“, sagt der CDU-Innenexperte Armin Schuster. „Entscheidender wäre, dass wir endlich das gemeinsame Europäische Asylsystem erfolgreich verhandelt bekommen.“ Sein SPD-Kollege Burkhard Lischka sieht das ähnlich: „Ein europäisches Asylrecht scheitert derzeit an der egoistischen Haltung einiger europäischen Regierungen, die sich jedem gemeinsamen Vorgehen verweigern und nicht am deutschen Grundgesetz.“