Yuval Weinberg Foto: Lichtgut/Ferdinando Iannone

Ligeti, Mendelssohn, Schubert: drei überragende Chormusik-Aufnahmen mit den Stuttgarter Dirigenten Yuval Weinberg und Frieder Bernius.

Die sich jagenden Stimmen, die in sich verschraubten Tonfolgen, diese enger und enger geführten Kanoneinsätze, die wie ein akustisches Pendant zu den Bildern Maurits Cornelis Eschers Horizontales und Vertikales vertauschen, wimmelnde Bewegung als statische Fläche erscheinen lassen: Solches Trompe l’oreille, solche Aufhebung klangperspektivischer Gegensätze macht den sinnlichen Reiz von György Ligetis Musik und ihrer Mikrokanonik aus. Einer Technik, die zugleich expressive Gestalt ist: In den Hölderlin-Phantasien klirren die Fahnen (aus „Hälfte des Lebens“) kalt im Wind lückenhafter Triolenachtel- und Sechzehntelkanons, in „Lux aeterna“ lassen die Verschiebungen im Innenraum der scheinbar stehenden Akkorde das ewige Licht stets neu und doch unvergänglich leuchten.

 

Geheimpolizei singt Kanon

Das Interesse Ligetis an einer Musik, die sich aus dem imitatorischen Impuls heraus entwickelt, reicht zurück in die Zeit vor seiner Flucht aus Ungarn 1956. Eine makabre Geschichte knüpft sich daran: Zwei Kanons hat er im stalinistischen Ungarn komponiert und wurde prompt zur Budapester Geheimpolizei vorgeladen – wo deren Chor ihm die Stücke vorsingen wollte, die er insgeheim bei Ligeti in Auftrag gegeben hatte.

Die grandiose erste Gesamtaufnahme von Ligetis A-cappella-Chorwerk mit Yuval Weinberg und seinem SWR Vokalensemble erlaubt solche biografisch-musikalischen Rückbezüge zum bis 1955 entstandenen Frühwerk, das quantitativ Ligetis chorisches Haupt-Oeuvre ist. Und qualitativ seinen ganz eigenen Rang hat.

Yuvals überragende Interpretation würzt in den Chorsätzen der Bartók-Nachfolge die Folkloristik, lässt in der Emphase Atem für melancholische Empathie, gibt den clusterartigen Klangfeldern (etwa in der Räuberpistole von Frau Papai) die Intensität des Vorhalls der drei späteren Großtaten avancierter Chorkomposition. In „Lux aeterna“ gelingt eine wahrhaft sphärische Balance von Strukturklarheit und der geforderten Unmerklichkeit in der Schichtung duolischer, triolischer und quintolischer Metren. Wie in den Hölderlin-Phantasien Transparenz und postmoderne, in auratischem Piano oder akkordischem Aufschrei gipfelnde Expressivität verbunden werden, wie in den „Ungarischen Etüden“ virtuoser Gestaltwandel oder die Gleichzeitigkeit von fünf (!) verschiedenen Tempi zum Ereignis werden: Das gleicht einem Nonplusultra der Chorkunst. Was Weinberg und das SWR Vokalensemble hier zustande bringen, ist sensationell.

György Ligeti: Sämtliche Werke für Chor a cappella. SWR Vokalensemble, Yuval Weinberg. Zwei CDs. SWR Classic.

Feinste Männerchor-Preziosen

Ebenso gekonnt nehmen die Herren des Ensembles einen ganz anderen Stil aus einer ganz anderen Epoche auf die Stimmbänder: Werke für Männerchor von Felix Mendelssohn Bartholdy in der Leitung von Frieder Bernius, wohl dem besten Kenner des Chor-Œuvres des Komponisten. Der Anspruch dieser Musik liegt darin, die Luzidität der Harmoniefolgen, die Geschmeidigkeit der Melodik, die Natürlichkeit der Phrasierung vor den Klischees des Genres zu retten. Das gelingt Bernius und seinen Mannen so vortrefflich, dass die Kompositionen als feinste Preziosen aufleuchten.

Felix Mendelssohn Bartholdy: Chöre für Männerstimmen. SWR Vokalensemble, Frieder Bernius. Zwei CDs. Carus.

Das Lied vom Tod und seiner Überwindung

Wie Bernius überhaupt der Romantik auf den authentischen Klang jenseits von Dampf und Pathos zu fühlen weiß, beweist er mit seinen eigenen Ensembles, dem Kammerchor und der Hofkapelle Stuttgart, in einer Aufnahme von Franz Schuberts As-Dur-Messe. Die grandiose symphonische Architektur wird erfüllt von einem Ausdruckskosmos, der in feinsten Nuancen die Töne subjektiv-spiritueller Empfindung erlauscht und mit der elastischen Dynamik des bestens phrasierenden Chorklangs die Objektivität der theologischen Aussage erfasst, die Schubert musikalisch aufs Transzendieren ins ewige Leben zuspitzt: Spiel’ mir das Lied vom Tod und seiner Überwindung.

Franz Schubert: Messe As-Dur. Johanna Winkel, Elvira Bill, Florian Sievers, Arttu Kataja. Kammerchor und Hofkapelle Stuttgart, Frieder Bernius. Hänssler Classic.