„Armenwallfahrt“ nennt die Caritas eine viertägige Wanderung, die sie alle zwei Jahre veranstaltet. Ziel der Pilgerschaft ist, dass Arm und Reich sich kennenlernen.
S-Mitte - Die Voraussetzungen sind so schlicht, wie die Stätten, an denen die Pilger übernachten: Nötig sind eine Matte zum Ausrollen auf dem Boden einer Sammelunterkunft und ein Schlafsack, um ihn auf der Matte auszubreiten. Unerheblich sind der Glaube an Gott oder gar die Treue zur Kirche. Was deswegen bemerkenswert ist, weil die Stationen zur Nachtruhe Kirchengemeinden sind, der Veranstalter die Caritas ist und die Veranstaltung eine Wallfahrt. Jedenfalls trägt sie die im Titel: Armenwallfahrt.
Armut soll sichtbar, Respekt vor Armen verbreitet und Verständnis für sie geweckt werden. Das ist das Ziel einer viertägigen Wanderschaft, die in der Domkirche Sankt Eberhard beginnt und im Kloster Weggental bei Rottweil endet. „Wobei mit Armut nicht nur der Mangel an Geld gemeint ist“, sagt Joachim Reber. „Eingeladen ist jeder, der das Gefühl hat, ihm fehlt etwas in seinem Leben.“ Reber begleitet die Pilgergruppe, die alle zwei Jahre aufbricht, anno 2014 bereits zum dritten Mal.
Eingeladen ist auch jeder, dem nichts fehlt im Leben
Eingeladen ist aber auch jeder, dem ganz und gar nichts fehlt in seinem Leben. Schon gar kein Geld. Der eigentliche Sinn der Wanderschaft ist nicht, Leidende ein paar Tage auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen seelischen Halt zu geben. Das tiefere Ziel ist, dass das wohlsituierte Bürgertum diejenigen kennenlernt, an denen es üblicherweise achtlos vorübergeht oder – vielleicht – en passant eine Münze in eine Pappschachtel fallen lässt.
Rund 20 Pilger gehen erfahrungsgemäß auf Armenwallfahrt. Das sind nicht allzu viele, gemessen daran, wie die Caritas für die Teilnahme wirbt. Zum Mitwandern wird hausintern eingeladen. Broschüren liegen aus. Selbstverständlich gibt es eine Internetseite. In den Häusern, in denen die Caritas Obdachlosen oder anderen Notleidenden hilft, werden die Gäste direkt angesprochen. Letzteres „trägt am meisten“, sagt Reber. Bisher waren die Mehrzahl der Wanderer tatsächlich obdachlos oder anderweitig aus der bürgerlichen Bahn des Lebens Geworfene. Und von ihnen sind die meisten Stammgäste. Dass das Bürgertum eher spärlich vertreten ist, mag seinen Grund auch darin haben, „dass man sich schon auf die Begegnungen einlassen muss“, sagt Reber. „Für jemanden, der nur mal Arme sehen will, ist die Wallfahrt nichts.“
Die Gründe für den Absturz sind oft alltägliche
Arm und Reich begegnen sich dennoch, allerdings seltener auf dem Weg, zumeist an den abendlichen Stationen. Dort bewirten die Mitglieder der gastgebenden Kirchengemeinden die Wanderer. „Das ist natürlich schon die bürgerliche Mittelschicht“, sagt Reber. Oder möglicherweise noch die bürgerliche Mittelschicht. Wenn die Wanderer aus ihrem Leben erzählen, „erkennt mancher: Da bin ich gar nicht so weit weg“. Die Gründe dafür, dass Menschen trotz eines geregelten Lebens den Boden unter den Füßen verlieren, sind ebenso vielfältig wie alltäglich: Scheidung und Arbeitslosigkeit sind die häufigsten.
Mitwandern kann jeder, der mag. Die täglichen Wegstrecken sind zwischen zehn und zwanzig Kilometer lang, mithin mühelos zu bewältigen. Falls dennoch unterwegs einem Pilger die Kräfte schwinden, steht ein Kleintransporter bereit. Völlig frei von christlichen Werten ist selbstredend auch diese Wallfahrt nicht – allerdings eher hintergründig, nicht im Sinne des gewöhnlichen Kirchgangs. Gottesdienste gehören zur Wanderschaft, allerdings sind sie eher philosophische Gespräche über das, was die Pilger den Tag über wahrnehmen.