Die Wasenwache anno 1909 Foto: Medek

Der Leiter der unteren Denkmalbehörde bei der Stadt Stuttgart, Herbert Medek hat sich mit der Geschichte des Wasens beschäftigt und ärgert sich über schwindendes Heimatwissen

Stuttgart - Er hat eine wechselvolle Geschichte: Der Cannstatter Wasen war Sportplatz, Übungsgelände fürs Militär, Flugplatz, Festgelände, selbst Buffalo Billtrat auf. Herbert Medek hat sie aufgeschrieben. Und entdeckt, dass man einst den Neckar nach Ulm fließen lassen wollte.

Herr Medek, beim Frühlingsfest war es wieder so weit, allerorten musste man „die Wasen“ lesen. Da gruselt es einen Cannstatter, oder?
Schon. Aber sie wissen es halt nicht besser, es kann ja nicht jeder ein Cannstatter sein. Da muss man gnädig sein. Der Wasen ist im Süddeutschen ein Feuchtland, ein Überschwemmungsgebiet. Die Norddeutschen würden im Übrigen Werder sagen, das ist nichts anderes.
Nicht nur um diese Sache aufzuklären, haben Sie ein Buch über den Wasen geschrieben?

Der Wasen hat einfach eine spannende Geschichte. Er war im Laufe der Jahrhunderte so viel. Vom Überschwemmungsgebiet bis zum Seilerwasen, wo die Seiler ihre Schnüre gefertigt haben, bis zum Kasernen- und Sportgelände, bis zum Stuttgarter Flughafen bis 1925. Das hat mich gereizt. Das Spannendste, was ich gefunden habe, hat aber mit dem Neckar zu tun.

Erzählen Sie.
Es gab Pläne, den Neckar in einem Tunnel unter der Alb mit Ulm zu verbinden. Man hat den Neckarkanal nur gebaut, um den Rhein mit der Donau zu verbinden, nicht um Stuttgart zu einer Hafenstadt zu machen. Geplant war, den Neckar bis Plochingen und dann die Fils auszubauen als Schiffskanal und schließlich mit zwei großen Hebewerken und Tunnels unter der Schwäbischen Alb durchzuführen und mit Ulm anzubinden. Das wurde eingestellt mit der Einweihung des Plochinger Hafens in den 60er Jahren – der Neckar kam nie bis Ulm.
Die Geschichte des Wasens begann eigentlich erst so richtig mit der Industrialisierung und der Zähmung des Neckars?
Der Wasen war eine riesengroße leere Fläche. Nach der Einhegung des Neckars war er als Überschwemmungsgebiet nicht mehr nötig. Im 19. Jahrhundert fand nicht nur das Volksfest erstmals statt, es kam auch das Militär. Dem König war es nicht recht, dass es so geknallt hat in der Stadt, wenn seine Grenadiere übten. Also schickte er sie auf den Wasen, dort wurden Manöver veranstaltet. Und dann kamen die Luftfahrtpioniere.
Luftfahrt?
Ja. Der Wasen war bis 1925 der Stuttgarter Flugplatz. Man stand im Wettbewerb mit dem Flugfeld Böblingen. Auf dem Wasen hat der Grunbacher Ernst Heinkel den ersten Flug seines Lebens unternommen. Am 9. Juli 1911 machte er mit seinem Flugzeug kurze Flüge. Gut, das waren eher Hüpfer. Zehn Tage später stürzte er ab, wurde schwer verletzt, das Flugzeug zerstört. Das sorgte für Riesenaufsehen. Man druckte eine Postkarte, verkaufte sie, um mit dem Erlös den Bau eines neuen Fliegers zu bezahlen. Später baute Heinkel dann in Warnemünde die Heinkel-Werke auf.
Aber der Wasen war doch damals schon Veranstaltungsgelände?
Ja. 1890 war Buffalo Bill mit seiner „Wild West Show“ zu Gast. 1907 fand der Sozialistenkongress statt, 60 000 Menschen, darunter August Bebel, Rosa Luxemburg oder der Franzose Jean Jaurès, waren dabei. 1899 schaute Kaiser Wilhelm II. vorbei, man ließ die Truppen paradieren. 1914 baute man das Stadion, später die Adolf-Hitler-Kampfbahn. Die Nazis nutzten den Wasen natürlich auch, als Aufmarschgelände, aber auch für den Bau der Schwabenhalle. Dort trat 1938 Hitler auf.
Und natürlich ist dort Jahr für Jahr das Volksfest, das streifen sie nur.
Da ist von vielen fast alles dazu gesagt. Ich beschäftige mich schon auf etlichen Seiten damit, aber trotzdem konzentriere ich mich lieber auf die Zeit um die Gründung 1818. Das waren zuvor ja katastrophale 15 Jahre. Das beginnt in der Regentschaft Napoleons, als Tausende württembergische Bauernbuben in die Kriege marschiert sind, damit unser Herrscher das Land verdoppeln konnte und König wird. Dann die Befreiungskriege gegen Napoleon, als die Soldateska wieder über das Land marschiert ist. Die Zeche zahlten immer die kleinen Leute. Schließlich der Vulkanausbruch des Tambora 1815 in Indonesien,als es im Sommer Asche regnete und die Leute verhungerten, weil es keine Ernte gab. Das Volksfest ist ja als Erntedankfest entstanden, es dauerte ursprünglich nur einen Tag.
Gestiftet von König Wilhelm I.?
Ja. Man muss sagen, Wilhelm I. hat das Land in den Wohlstand gebracht. Er hat es aus einem reinen Agrarstaat in einen Industriestaat verwandelt. Er war halt ein reiner Praktiker, hat keinerlei Sinn für Kunst gehabt – außer für Ballettmädle. Privat hat es ja nicht so richtig geklappt zwischen den beiden, aber beruflich waren er und Königin Katharina ein perfektes Team.
Volksfest, das ist heute ja auch und vor allem Bier trinken. Bei Ihnen lerne ich, dass Bierbrauen mal verboten war.
In der Tat. 1630 gab es die erste Brauerei in Stuttgart. Dann intervenierte die Weingärtnerzunft, um die Konkurrenz auszuschalten. Der Adel verbot also das Bierbrauen, wollte es aber trotzdem trinken und importierte sein Bier. Ende des 17. Jahrhunderts kassierte man das Verbot. Mit der Gewerbefreiheit 1861 war es dann ohnehin obsolet. Sie kennen bestimmt die Tivoli-Garage am Berliner Platz. Wissen Sie, woher der Name kommt?
Nein.
Das hat nichts mit dem Vergnügungspark in Kopenhagen zu tun. Da war mal die Tivoli-Brauerei mit 100 000 Hektoliter Jahresausstoß, das weiß kaum noch jemand.
Als Ausbilder der Stadtführer kümmern Sie sich ja darum, dass das nicht vergessen wird. Ist das nötig?
Absolut. Wenn ich vor 20 Jahren Führungen gemacht habe, wussten die Leute vieles schon. Das kommt heute fast nicht mehr vor. Viele stammen nicht mehr von hier. Und in der Schule lernst du vieles, aber wenig über den Ort, wo du lebst.
Aber Heimat ist doch ein Megathema.
Kein Begriff wurde so missbraucht wie Heimat. Aber die Weise, wie man sich früher in der Grundschule mit dem engsten Umfeld befasst hat – das hat sich geändert.
Die Welt ist größer geworden?
Natürlich. Aber dein Lebensumfeld ist dennoch begrenzt. Deshalb hielte ich es für besser, wenn zumindest das Interesse geweckt werden dürfte. Nicht nur die Geschichtsdaten pauken von irgendwelchen Schlachten, sondern lieber erzählen, was hier passiert ist.
In Bad Cannstatt kann man alles lernen, was die Weltgeschichte angeht?
Ja. Schon vor 250 0000 Jahren gab es zur Zeit des Homo steinheimensis Cannstatter, die Mammuts gevespert haben. Da hat von Stuttgart noch keiner was geahnt.