„Entartete Musik“ heißt das neue Album der Toten Hosen, das legendären Künstlern wie Brecht, Kästner und Schönberg gewidmet ist und an die Verfolgung von Menschen im Nationalsozialismus erinnert. Ein Gespräch mit Tote-Hosen-Frontmann Campino alias Andreas Frege.
Campino, in Ihrem neuen Album „Entartete Musik“ interpretieren Sie Musik, die von den Nazis verfemt wurde. Wofür setzen Sie sich mit diesem Projekt genau ein?
Wir wollen jungen Menschen bewusst machen, was damals als „entartete Musik“ verstanden wurde. Dabei zeigen wir nicht nur traurige Beispiele, sondern regen gelegentlich auch zum Schmunzeln an, damit man sich nicht wie auf einer Schulbank fühlt. Aber das Thema löst auch bei älteren Generationen etwas aus: ein Wachrufen von Dingen, die oft verschüttet waren. Zu guter Letzt geht es hier auch um geniale Kompositionen von unglaublichen Künstlern wie Arnold Schönberg und Max Bruch. Im Dritten Reich wurde ein immenses Kulturleben ausgerottet. Davon hat sich unser Land bis heute noch nicht erholt.
Sie haben auch Erich Kästners politisches Gedicht „Stimmen aus dem Massengrab“ vertont. Darin erinnert er an die gefallenen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Hat Ihr Vater im Zweiten Weltkrieg kämpfen müssen?
Ich habe Kästner selbst entdeckt. Er ist für mich der wichtigste deutsche Schriftsteller der letzten 100 Jahre. Was den Zweiten Weltkrieg angeht: Mein Vater war vom ersten bis zum letzten Tag dabei. Er wurde sehr jung eingezogen und hat an vielen Fronten gekämpft: in Polen, in Frankreich, vor Stalingrad.
Wie hat Ihr Vater den Krieg überlebt?
Vor Stalingrad bekam er einen Streifschuss am Kopf. Aufgrund dieser Verletzung wurde er im letzten Moment noch ausgeflogen und nach Österreich in ein Lazarett verlegt. Dort geriet er später in amerikanische Gefangenschaft. Diese Erlebnisse haben ihn nie losgelassen, aber nach dem Krieg ist niemand zum Psychiater gegangen. Man durfte keine Schwäche zeigen und hat einfach „weitergemacht“. Mein Vater nahm uns Brüder manchmal mit ins Kino, und wenn es dann „Schlacht um Stalingrad“ hieß, dann spürte ich, wie er im Sessel neben mir nervös wurde. Wenn eine Landkarte eingeblendet wurde, sprach er zu sich selbst: „Der Frontverlauf war völlig anders.“ Nach dem Film saßen wir in einer Kneipe, tranken ein Bier und konnten alle Fragen stellen.
Sind bei Ihnen noch Fragen offengeblieben?
Mein Vater ist nun seit 18 Jahren tot, aber eigentlich könnte ich ihm jeden Tag neue Fragen stellen. Die Vorstellung, noch einmal mit ihm darüber zu sprechen, bleibt einer meiner unerfüllten Träume. Ich hatte Glück, dass der deutsche Teil meiner Familie integer war. Mein Vater war nie Mitglied der NSDAP. Als Soldat musste man kein Parteimitglied sein. Mein Großvater hatte Berufsverbot, weil er sich als Richter geweigert hatte, ohne Verhandlung Urteile gegen Juden zu sprechen. Nach dem Krieg wurde er durch die Amerikaner als Präsident des Bundesverwaltungsgerichts eingesetzt.
Die Nazi-Ausstellung „Entartete Musik“ sollte den vermeintlichen Einfluss des „Jüdischen“ und des „Undeutschen“ dokumentieren. Fühlen Sie sich als Deutscher dem jüdischen Volk verpflichtet?
Ja. Nach all dem, was wir Deutsche dem jüdischen Volk angetan haben, sollten wir diesen Menschen besondere Solidarität zukommen lassen, wenn sie bedroht sind. Es ist besorgniserregend, dass wir den jüdischen Gemeinden in Deutschland noch immer kein normales, angstfreies Leben bieten können. Und es ist erbärmlich, dass man die Synagogen absichern muss.
Hat Deutschland auch 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine besondere Verantwortung?
Auf jeden Fall. Für einen 20-Jährigen hören sich 70 Jahre nach einer verdammt langen Zeit an, aber wenn man 50 wird, weiß man, dass das kein langer Abschnitt ist. Unsere Verantwortung in der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage ist auch vom Zweiten Weltkrieg geprägt. Wir müssen wegen unserer Vergangenheit nicht gebückt durch die Gegend laufen, aber wir sollten der Weltgemeinschaft danken, wie rasch sie uns wieder aufgenommen hat, nicht vergessen, was gewesen ist, und zeigen, dass wir aus unseren Fehlern gelernt haben.
Was erwarten Sie von der deutschen Asyl-Politik?
Zunächst bin ich froh, dass wir zwar spät, aber letztendlich dann doch bereit sind, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern eine Verantwortung zu übernehmen. Jedem, der um sein Leben bangt, steht Nothilfe zu. Dieses Problem kriegen wir natürlich nicht alleine geschultert. Auf lange Sicht werden wir uns vor allen Dingen um die Fluchtursachen kümmern müssen.
Wie kann man die Bürger so weit involvieren, dass sie mehr Verständnis für die Situation von Flüchtlingen bekommen?
Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Die Menschen müssen emotional abgeholt werden zu einem Zeitpunkt, an dem sie dazu auch bereit sind. Man muss aufhören, Ängste zu schüren, und versuchen, die Hysterie aus der Diskussion rauszunehmen. Man muss die Menschen dazu bringen, sich selbst einmal in die Lage eines Flüchtlings zu versetzen. Deutschland hat eine große Flüchtlingsgeschichte und war oft auf das Erbarmen anderer angewiesen. Die Willkommensszenen an vielen Bahnhöfen sind voller Empathie. Auch wenn das nur Momentaufnahmen sind, schmälern sie die Größe dieser Haltung nicht.
Sind die heutigen Formen von Rechtsradikalität bei Jugendlichen vergleichbar mit denen im Dritten Reich?
Anfang der 30er Jahre gab es große Kämpfe zwischen Linken und Rechtsextremisten. Zunächst sah es nicht so eindeutig aus, und man nahm auch Hitlers Reden nicht wirklich ernst. Heute dagegen sind viele sensibilisierte, entschlossene Menschen da, die schnell gegen die Rechten antreten, wenn Hassattacken aufflammen.
Sie haben sich seit jeher gegen Fremdenhass und Rechtsextremismus starkgemacht. Wie kann man Rassisten bekehren?
Hardliner argumentieren nicht sachlich, sondern mit Scheinargumenten und dummen Parolen. Insofern ist es unheimlich schwierig, mit Extremisten sachlich zu diskutieren. Mein Job wäre das nicht.
Woher kommt Ihre Zivilcourage?
Ich bin mit 14 in die Punkszene gerutscht und bewunderte Künstler wie die Tom Robinson Band und The Clash. Sie stellten mit Rock Against Racism für unsere Bewegung die politischen Weichen. Das machte uns zu den Menschen, die wir heute sind.
Die Band Amok hat den Tote-Hosen-Hit „An Tagen wie diesen“ in eine rechtsextreme Hymne verwandelt. Ein gezielter Angriff?
Pfff, die Rechten drehen einfach irgendwelche berühmten Lieder inhaltlich um und finden das witzig. Sollte es Versuche geben, solche schlechten Scherze kommerziell zu verwerten, dann gehen wir dagegen juristisch vor. So schnell kriegt man uns nicht aufs Glatteis.