Foto: Kraufmann

Das Tanzcafé Niethammer in Jettingen ist eines der letzten seiner Art. Jeden Sonntag gibt es dort einen Tanztee - auch an Weihnachten.

Jettingen - An Tisch 25 haben sie sich kennengelernt. An einem Junitag 1985. Gefunkt hat's erst Wochen später, doch seither kommen Ottmar und Brigitte Hörmann jeden Sonntag zum Tanztee ins Café Niethammer nach Jettingen. Das Niethammer ist eines der letzten seiner Art, ein Fossil aus dem letzten Jahrhundert.

Turnschuhe sind tabu, zerfetzte Jeans auch. Wer in der falschen Garderobe antanzt, kann auf dem Absatz umdrehen. Die Hörmanns sind wie aus dem Ei gepellt: Sie kommt Ton in Ton, die elegant glänzende Bluse perfekt auf den braunen Rock abgestimmt, er trägt eine schwarze Hose mit hellem Hemd, dazu ein blaues Jackett. Für das Paar aus Nebringen (Kreis Böblingen) ist im Niethammer immer ein Tisch reserviert. Wenn es ihnen mal nicht zum Tanztee in den wenige Kilometer entfernten Jettinger Ortsteil Oberjettingen reicht, rufen sie an.

Kurz nach 16 Uhr fährt Ottmar Hörmann mit seinem Mercedes auf dem verschneiten Parkplatz vor. Galant hält er seiner Frau die schwere Holztüre zum Café auf - und betritt eine Welt, in der die Zeit seit fast 30 Jahren still zu stehen scheint.

Drinnen ist es mollig warm, es riecht nach frischem Kaffee und Tannengrün. Im Kaminzimmer brennt schon das Feuer. Am Ende der samtroten Treppe wartet Roland Fortenbacher und begrüßt die Hörmanns mit Handschlag. "Schön Sie zu sehen", sagt der Niethammer-Chef und führt das Paar zu seinem Stammplatz in den schummrig beleuchteten Spiegelsaal. Alles erinnert hier an die Zeit des Jugendstils: die gold-gestreiften Lampen, die bunt gefärbten Spiegelrosetten, der goldbraune Samtbezug der Stühle. Auf der Rosette an der Wand ist eine halbnackte Blondine mit grasgrünem Kleid zu sehen, und an der Decke prangt ein Ornamentmuster in warmen Bordeaux-Rot.

Obwohl die Bedienung mit den toupierten Haaren und den schwarz-glitzernden Fingernägeln weiß, was die Hörmanns wollen, fragt sie dennoch: " Bitterlemon mit Mineralwasser, wie immer?", und serviert's im Handumdrehen. Nach 20 Jahren im Haus kennt sie die Gewohnheiten der Gäste. "Sie ist eine Perle", sagt Brigitte Hörmann.

Lange in der Sitzecke hält es das Paar nicht. Als die Liveband San Fernando den Schlager "Joana" von Roland Kaiser spielt, schnappt Ottmar Hörmann (72) seine Frau (60) und schiebt sie nach vorn. Leichtfüßig gleiten die beiden übers Parkett, drehen sich beim Discofox schwungvoll im Kreis, tanzen auseinander und wieder zusammen.

Fast 40, 50 Paare wirbeln um den hellbeleuchteten Tannenbaum herum, die meisten sind zwischen 40 und 70. Wer es etwas ruhiger mag, zieht sich in den Safarisaal mit den Mohr-Statuen zurück und schwoft zwischen unechten Elefanten-Stoßzähnen und Lampen, die wie Palmen aussehen.

Zwei Frauen um die 50 wagen sich allein auf die Tanzfläche. Ein Mann im gestreiften Hemd, Mitte 40, fordert eine etwa gleichaltrige Brünette auf. Die will eigentlich kurz durchschnaufen, kann die charmante Offerte aber nicht ablehnen.

Auch Ruth (52) aus Talheim (Kreis Freudenstadt) sitzt keine fünf Minuten am Tisch. Kaum ist eine Runde zu Ende, steht schon der nächste Tänzer da. Die Mutter von zwei Kindern fährt seit 30 Jahren nach Jettingen. "Ich war früher das Kücken und die Herren alle reifer als ich." Gestört hat sie das nicht. "In der Disco habe ich mich nie wohlgefühlt." Ruth kommt mal mit, mal ohne ihren Mann - je nachdem "wie die Wetterlage zuhause ist". Heute scheint sie ungemütlich zu sein. Der Gatte hat sich für die Sauna entschieden. Als "Komm hol' das Lasso raus" von Olaf Henning erklingt, ist sie schon wieder auf der Tanzfläche und fegt mit dem Herrn im gestreiften Hemd übers Parkett, während andere begeistert in die Luft springen und in die Hände klatschen.

Mittendrin: Christina (50) und Rainer (60). Die Hausfrau aus dem Kreis Freudenstadt und der Heizungsinstallateur aus Thüringen kennen sich seit ein paar Wochen. Rainer kommt alle 14 Tage ins Niethammer, immer dann, wenn er beruflich in der Gegend ist. Christina hat irgendwann mal seinen Stammplatz in Beschlag genommen - nicht wissend, dass es sein Lieblingstisch ist. Seither sitzen die beiden Seit' an Seit'. "Ich genieße es, wenn er hier ist, er ist ein verdammt guter Tänzer", sagt sie und zeigt temperamentvoll, dass sie mithalten kann.

Auch die Hörmanns sind nicht zu bremsen und tanzen, als würde es kein Morgen geben. Egal ob Foxtrott, Tango, Jive oder Rock 'n Roll - die beiden beherrschen alles aus dem Effeff. Schon auf ersten Blick wird klar, wer den Takt vorgibt. "Eine Frau, die sich nicht führen lässt, fordere ich kein zweites Mal auf", sagt der Mann mit den silbergrauen Haar und grinst über beide Backen.

Tanztee unterm Tannenbaum

Vor Brigittes Zeit war Ottmar ein eingefleischter Junggeselle - und ein begehrter Tänzer. "Sechs, sieben Damen saßen immer um ihn herum", erinnert sich seine Frau. "Er musste nie eine zum Tanzen holen."

Mit Brigitte hat er an jenem Junisonntag erst ganz am Ende getanzt - zu "Resi, i hol die mit mei'm Traktor ab" von Wolfgang Fiereck. Das Lied hätte nicht besser passen können: Ottmar kommt aus einer Bauernfamilie. Nach der Runde dachte er: "Mädel, du musst noch viel lernen!" Die Frau mit den dunklen kurzen Haaren hat nie einen Tanzkurs gemacht und sich alles von ihrem Mann abgeguckt.

Inzwischen sind die beiden seit mehr als 30 Jahren ein Paar. "Dabei", sagt Ottmar, "wollte ich nie eine Frau mit Kindern heiraten." Brigitte war damals geschieden und zog zwei Jungs im Alter von elf und 14 alleine auf. Weil das Geld knapp war, putzte sie sonntagmorgens im Niethammer - und traute sich erst auf Zureden der damaligen Chefin Lore Niethammer zum Tanztee.

Lores Mann Arthur hat das Café 1964 übernommen: Nach dem Tod seines Vaters musste er ran. Der gelernte Konditor steckte viel Geld in Um- und Anbauten, setzte alles auf ein Tanzcafé mit Kappellen und Combos - mitten in der Provinz, in einem Flecken zwischen Herrenberg und Nagold, der damals knapp 1200 Einwohner zählte.

Sein Konzept ging auf. Wer etwas auf sich hielt, ging ins Niethammer. "Samstags", erinnert sich Brigitte Hörmann, "trugen die Damen Abend- oder Cocktailkleider, und die Herren gingen nie ohne Krawatte und Jackett aus dem Haus." Sonntags drängten sich bis zu 500 Gäste beim Tanztee. Aus Balingen, vom Bodensee, aus Stuttgart und Karlsruhe kamen sie. Weil die Straße vor dem Haus oft zugeparkt war, musste Arthur Niethamm einen Parkplatz mit 200 Stellplätzen bauen. Nicht selten pilgerte das Tanzvolk sonntagabends vom Niethammer ins Café Rommel nach Schwaikheim (Rems-Murr-Kreis). Das Rommel ist neben dem Niethammer eines der letzten Tanzcafés in der Region Stuttgart.

Seit fünf Jahren betreiben Roland und Susanne Fortenbacher das Niethammer. Der 54-Jährige war früher selbst Stammgast und hat sich mit der Übernahme einen Traum erfüllt. Auch heute noch kommen viele Gäste von auswärts nach Jettingen. Auf dem Parkplatz stehen Autos mit Reutlinger, Stuttgarter, Ludwigsburger, Tübinger oder Pforzheimer Kennzeichen.

Bernhard (78) und Käthe Widmann (71) fahren sonntags fast 100 Kilometer hin und zurück - und das seit sieben Jahren. Das Café ist für das Paar aus Pforzheim das zweite Wohnzimmer. "Zuhause", meint Bernhard Widmann, "würden wir nur rumsitzen, tanzen dagegen hält uns fit."

Obwohl das Niethammer noch viele Stammgäste hat, sind die Zeiten, da ein Anbau dem nächsten folgte, vorbei. "Die jungen Leute legen heute keinen Wert mehr auf einen gepflegten Paartanz", klagt Ottmar Hörmann. "Bei uns war das selbstverständlich." Seine Familie ist das beste Beispiel dafür: "Ich habe meinen Söhnen einen Tanzkurs gezahlt, aber der Funke ist nicht übergesprungen", bedauert seine Frau Brigitte.

Auch wenn die Söhne die Leidenschaft nicht teilen, akzeptieren sie es, dass die Eltern an Weihnachten mit dem Mercedes nach Jettingen kurven. Ihr Tisch im Niethammer ist reserviert.

  • Das Tanzcafé Niethammer hat am 26. Dezember ab 20 Uhr geöffnet. http://www.cafe-niethammer.de
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