Es seien harte Zeiten gewesen für alle, die bauen wollten, erinnert sich Rainer Häußler an die 1960er Jahre. Sein Heimatort Musberg hat sich seither stark verändert. Viele Siedlungsgebiete kamen dazu, aber das ist längst nicht alles.
Musberg - Rainer Häußler beschreibt Musberg noch immer als „ruhige Nische, umgeben von Wäldern“. Dabei ist sein Heimatort in den vergangenen Jahrzehnten fast schon explosionsartig gewachsen. Sehr viele Felder sind Wohngebieten gewichen, wie die Luftaufnahmen aus 1968 im Vergleich zu heute zeigen. Ein Prozess, der nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hat.
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Damals galt es, Menschen, die durch die Kriegswirren ihre Heimat in Ungarn oder auch im Sudetenland verloren hatten, eine neue Heimat zu bieten. 1949 fehlte in Musberg Wohnraum für 108 Familien, darunter 63 Neubürgerfamilien, ist in Dokumenten des Stadtarchivs Leinfelden-Echterdingen nachzulesen. Der damalige Bürgermeister Gustav Egler gründete deshalb die Bauhilfe. Die Idee dahinter: Die Sparbeträge der Mitglieder sollten Baulustigen als steuerbegünstigte Darlehen ausgegeben werden.
Wohnhäuser statt Baracken
Wohnhäuser sollten schon bald Baracken und Behelfsheime ersetzen. Der Ort zog weitere Neubürger an, sodass in den 1950er und 1960er Jahren weitergebaut wurde. Das gesamte Gebiet westlich der Rohrer Straße bis an den Waldrand und an den Reichenbach wurde überbaut. Von Mitte der 1950er Jahre an sind in Musberg sechs neue Siedlungsgebiete entstanden – darunter auch das Gebiet Lauch: 16 Einfamilienhäuser sollten Ende der 1960er Jahre zwischen der Wilhelm-Hachtel-Straße und der Hölderlinstraße entstehen. „Der Gemeinderat und ich waren uns da aber sehr schnell einig, wir wollten kein Luxusquartier, sondern Wohnungen für viele“, sagt Häußler, der 1966 im Alter von 26 Jahren Bürgermeister dieses Ortes geworden war. Denn auch damals waren günstige Wohnungen Mangelware. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben. Ausschließlich junge Familien aus Musberg sollten zum Zuge kommen.
Häußler zählte mit Frau und Kindern selbst zu dieser Kategorie. „Auch wir mussten feste sparen für dieses Ziel. Das waren harte Zeiten für alle, die bauen wollten.“ Allerdings seien die Grundstückspreise deutlich günstiger gewesen als heute. Häußler zog mit seiner Familie in eine Wohnung, die im fünften Stock eines Hauses an der Hölderlinstraße liegt – und wohnt dort heute noch.
Ein Gotteshaus für Musberg
Auch die katholische Kirchengemeinde wollte in diesem Neubaugebiet bauen. Denn in Leinfelden und Musberg lebten aufgrund der Heimatvertriebenen immer mehr Menschen katholischen Glaubens. In Leinfelden wurde die Kirche St. Peter und Paul gebaut und 1958 eingeweiht. Auch Musberg sollte ein Gotteshaus bekommen, fanden einige aus dem Kirchengemeinderat, berichtet Rudi Schwarz, ein damaliges Mitglied, unserer Zeitung. Aber auch die Künstler Traute und Gottfried Gruner sowie der Architekt Eberhard Steim – allesamt aus Musberg – hätten auf den Kirchenbau gedrängt.
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Das katholische Gemeindezentrum Heilig Kreuz mit einem Gottesdienstraum, Gemeinderäumen und Wohnungen im Nachbarhaus wurde konzipiert, gebaut und im Herbst 1976 eingeweiht. „Diese neue Begegnungsstätte wird mit mehreren großen Veranstaltungsräumen, einem Jugendbereich und einer Kegelbahn im Zentrum der neuen Wohnanlage für mehr als 2000 Bürger für Leben sorgen“, heißt es anlässlich des Festaktes in einem Grußwort von Walter Schweizer, dem damaligen Oberbürgermeisters von Leinfelden-Echterdingen.
Kein Geläut im Neubaugebiet
Die Gemeinde Musberg hatte derweil schon früher im Gebiet Lauch ein Kirchengrundstück ausgewiesen – „allerdings ohne Glockenturm – das war unsere Bedingung“, erinnert sich Rainer Häußler. Die Begründung: „Glockengeläut mitten im Neubaugebiet – das gibt nur Ärger.“ Eine katholische Kirche ohne Glocken? „Gewundert hat mich das damals schon“, sagt Rudi Schwarz dazu. Aber: „Die Nachbarn hätten nicht zugestimmt, wenn wir auf einen Glockenturm bestanden hätten.“
„Die Kirchengemeinde hat sich auf diesen Kompromiss eingelassen“, sagt Hans Stehle, heute Pfarrer der Seelsorgeeinheit katholischer Kirchen in Leinfelden-Echterdingen. Mittlerweile habe man sich arrangiert, dass es in Musberg eben keine Glocken gebe. Dafür sei dort ein modernes Gemeindehaus entstanden, dass sich architektonisch sehen lassen könne, erklärt er.
Ursprünglich habe die Diözese auch geplant, in Musberg eine eigenständige Gemeinde einzurichten. „Man hat dann aber recht schnell gemerkt, dass dies nicht sinnvoll ist“, sagt Stehle. So gehört Musberg noch immer zur Kirchengemeinde St. Peter und Paul. Vor der Coronakrise kamen immerhin 30 bis 40 Gläubige regelmäßig zum Gebet ins katholische Gemeindezentrum Musberg. Dort findet meist ein Samstagabend-Gottesdienst statt, erläutert Stehle.