Erst Steinbruch, dann Atomkraftwerk. Die Aufnahme aus dem Jahr 1968 zeigt das fast ausgebeutete Gelände einer Zementfabrik. Zwei Jahre später begannen dort die Bauarbeiten für den ersten Block des Gemeinschaftskernkraftwerks Neckar. Foto: /Landesarchiv, StAL/EL 68 IX Nr 4978

Auf dem Gelände einer Zementfabrik in Neckarwestheim entstand in den 1970er Jahren ein Kernkraftwerk – und damit auch eine Protestbewegung. Besuch an einem Ort mit verstörender Aussicht.

Das Haus von Birgit Riecker ist fast nicht zu verfehlen. Immer der Wolke nach und dann links. Klingeln, eintreten, wohl fühlen – ganz einfach. So herzlich wie Birgit Riecker den Gast empfängt. Und bei dem Blick aus den Fenstern, der auf Felder, Wald und Wiesen fällt. Kirchheim am Neckar ist ein kleiner Ort mit viel Natur und vielem, was Tagestouristen sonst noch anzieht. Trotzdem, eigentlich wollte Birgit Riecker nicht hierher ziehen. Wegen der Wolke, die hier eben auch zu sehen ist, von überall. Sie entsteigt dem Gelände des nahen Atomkraftwerks. Dass die 62-Jährige doch in dieses Haus in diesem Ort gezogen ist, war, wenn man so will, ein Statement. Nicht nur für ihren Mann. Auch gegen das Kraftwerk. „Ich war schon ein bisschen fassungslos, als ich sah, was hier steht“, sagt sie über ihren ersten Besuch in Kirchheim.

 

Wer Birgit Riecker ein bisschen kennt, kann sich schlecht vorstellen, dass sie keine Ureinwohnerin von Kirchheim ist. Birgit Riecker, Mutter von drei Kindern, war Elternbeirätin. Und sie war Mitglied im Turnverein. Sie hat mit den Anfang dafür gemacht, dass auf so sehr vielen Häusern im Ort eine Fotovoltaikanlage glänzt und der Strom für die öffentlichen Einrichtungen aus regenerativen Energien stammt. Mehr als 20 Jahre saß sie im Gemeinderat, und stellvertretende Bürgermeisterin ist sie zeitweise auch gewesen.

Tatsächlich kam Birgit Riecker erst durch ihren Mann in den Norden des Landkreis Ludwigsburg. „Lass uns nach Kirchheim ziehen“, schlug Rolf Riecker vor. „Wie kannst du hier leben?“, fragte sie, als sie das erste Mal in seiner Heimat war. „Ich war zuerst da“, erklärte der Mann.

Rolf Riecker ist 16, als bekannt wird, dass in seiner Nachbarschaft ein Atomkraftwerk entsteht. 1970 ist das. In jenem Dezember geben die Technischen Werke Stuttgart und die Neckarwerke Esslingen bekannt, dass sie mit der Bundesbahn ein Gemeinschafts-Kernkraftwerk (GKN) errichten. In einem größtenteils ausgebeuteten Steinbruch im nahen Neckarwestheim. Der Platz, befinden die Bauherren, von denen zwei längst in der EnBW aufgegangen sind, ist nachgerade ideal: Allzeit gut temperiertes Wasser, da der Neckar durch die Enz gekühlt werde. Kaum eine Verschandelung des Landschaftsbilds, da der Bauplatz in einer Senke liege. Und auch keine langwierigen Grundstücksverhandlungen, da die gesamte Fläche in einer Hand sei.

Gefahr durch radioaktive Niederschläge?

Die Begeisterung vieler Bürger hält sich in Grenzen. Was passiert mit unserem Getreide, unserem Obst, unserem Wein: Droht Gefahr durch radioaktive Niederschläge? Und die Autofahrer: Verschleiern ihnen Nebelwolken die Sicht? Und das Trinkwasser und die Gesundheit: Ist alles in Gefahr? In vielen voll besetzten Versammlungen stellen viele besorgte Bürger ihre Fragen. Und die planenden Energetiker geben Antworten, die man ganz kurz so zusammenfassen kann: „Machen Sie sich keine Sorgen!“

1976 schließlich geht das 850 Millionen Mark teure Kraftwerk in Rolf Rieckers Nachbarschaft ans Netz. Ein paar Jahre später, anno 1984, zieht er mit seiner Frau in das Haus mit dem verstörend-schönen Ausblick. Rolf Riecker sagt damals nicht nur: „Ich war zuerst da.“ Er prophezeit seiner Frau auch: „Die gehen wieder.“ Er wird recht behalten. Doch es wird ein langer Weg.

Im Sommer 1991 kommen in Kirchheim am Neckar sechs Kinder aus der damaligen Sowjetunion an. Wenn Birgit Riecker von damals erzählt, muss sie noch immer gegen Tränen kämpfen. „Die Kinder sahen so blass aus und waren so mager.“ Hinter ihnen liegt eine schlimme Zeit, und die, die vor ihnen liegt, kann kaum besser werden. Die Kinder, man ahnt es, kommen aus Tschernobyl oder zumindest aus dem Dunstkreis der Wolke, die nach dem 26. April 1986 von dort über Teile des Landes und weiter über Europa gezogen ist. Man muss nicht viel über Tschernobyl sagen. Jeder weiß, dass dieser Ort für einen der größten Unfälle in der Geschichte der Atomenergie steht. Unzählbar viele Menschen starben an den Folgen, bekamen Krebs oder erlitten Fehlgeburten.

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In Kirchheim sollen die Kinder zu Kräften kommen. Besuche bei Ärzten, die in der Heimat nicht selbstverständlich sind. Spielen an der frischen Luft, was zuhause nicht mehr möglich ist. Und essen so viel man will, wo doch daheim oft das Geld fehlt oder das Essen. Ein bisschen Unbeschwertheit, wenigstens für drei Wochen. Birgit Riecker hat den Aufenthalt in Kirchheim und Umgebung viele Jahre mitorganisiert – der anderen zugleich etwas von ihrer Unbeschwertheit nehmen soll. Denn dass die friedliche Nutzung der Kernenergie nicht zwingend friedlich verlaufen muss, das ist mit Tschernobyl ja unignorierbar. „Wir wollten zeigen, ein GAU kann passieren“, sagt Birgit Riecker.

Und dennoch geht am 3. Januar 1989, keine drei Jahre nach Tschernobyl, der zweite Block des Atomkraftwerks in Neckarwestheim ans Netz.

Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn der Erweiterungsbau im Jahr 1986 nicht schon so weit fortgeschritten gewesen wäre. Die Arbeiten daran hatten 1982 begonnen. Die Überlegungen dafür datierten sogar aus dem Jahre 1975. Vielleicht aber wäre es trotzdem genau so gekommen.

Demonstranten versperren die Zufahrt zum Kraftwerk

Die Befürworter des Atomstroms waren ja weiterhin überzeugt vom Atomstrom. Weil er so sauber sei und immer verfügbar. „Die Versorgungssicherheit muss auch gewährleistet sein, wenn in einer Spitzenlastzeit Wasserkraft wegen Niedrigwasserführung nicht zur Verfügung steht oder Windstille herrscht oder die Sonne nicht scheint“, sagte im Herbst 1988 etwa Dieter Remppel, der energiepolitische Sprecher der CDU, die damals noch allein das Land regierte.

Man kann auch nicht sagen, dass es keinen Protest gegen den zweiten Meiler gegeben hätte. Kernkraftgegner versperrten die Zufahrt zum Kraftwerk, organisierten Demonstrationen und hielten Mahnwachen ab. Die Opposition im Landtag opponierte. Es hat nur nichts geändert. Der Bund der Bürgerinitiativen zog seine Klage wegen der Risiken letztlich selbst zurück. Weil er keine Aussicht auf Erfolg sah.

Und es war ja auch nicht so, dass alles rund lief, nachdem die Bauarbeiten erst einmal begonnen hatten. Am Reaktordruckgefäß von Block I mussten massenhaft defekte Schrauben ausgetauscht werden. An der Standsicherheit von Block II schürte ein Geologe große Zweifel. Das Gestein unter dem Meiler sei nicht besonders tragfähig, warnte der Experte. Hohlräume könnten sich bilden und im Falle eines Erdbebens kollabieren – mit fatalen Folgen. Und dass in all den Jahren noch immer kein Endlager für den radioaktiven Müll gefunden worden war, hätte die Aussicht auf den allzeit verfügbaren Strom ebenfalls trüben können.

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Nicht aber bei den Regierenden im Lande. Im September 1988 erklärt der Wirtschaftsminister Martin Herzog, dass die Störungen des Untergrunds keine Gefahr bedeuten. Das GKN II sei „die modernste Anlage dieser Art in der Bundesrepublik. „Nach menschlichem Ermessen“ sei eine Gefährdung der Bevölkerung ausgeschlossen. Knapp drei Monate später war der Meiler am Netz.

Am Neckartalradweg in Kirchheim steht seither ein Gedenkstein. „Sie ließen weiterbauen trotz Tschernobyl“, ist dort eingemeißelt, neben den Namen des Ministerpräsidenten Lothar Späth und seinen Ministern.

Nun, im Atomkraftwerk am Neckar gab es keine Kernschmelze. Auch zu einem Einsturz ist es nicht gekommen. Das Gemeinschaftskernkraftwerk lieferte Strom und bescherte seinem Umland eine zumindest finanzielle Sorgenfreiheit. Es bezahlte zuverlässig Gewerbesteuer, bot sichere Arbeitsplätze und erwies sich Vereinen gegenüber stets spendabel.

„Da war ein Riss“

Trotzdem: Man darf sich die Stimmung in Kirchheim, und auch in den Orten drumherum, zeitweise als durchaus angespannt vorstellen. Da gab es die einen, die im GKN schaffen, und die anderen, die das GKN abschaffen wollen. Und jeder dachte vom andern, er habe nicht alle Latten am Zaun. „Da war ein Riss“, sagt Birgit Riecker über diese Zeit. Und er war auch nicht zu kitten. Denn der Protest ging ja weiter. Nun gegen die Transporte. Die Brennelemente, die ausgebrannt waren, mussten weg. Oder neue her.

Auf Fotos aus dieser Zeit sind riesige Lastwagen zu sehen, die sich mit tonnenschwerer Fracht durch Ortsdurchfahrten schleppen, die teilweise sehr eng oder sehr kurvig sind, oder beides. Und Demonstranten, die auf Straßen sitzen, um die strahlenden Fahrten zu stoppen. Und die Transparente spannen, auf denen steht: „Laßt uns Sand sein im Getriebe, der blockiert!“

Zeitungen berichten von Aktivisten, die sich am Kirchheimer Ortsausgang aneinander gekettet haben und nur schwer wegzutragen sind. Und von welchen, die bei Walheim heimlich einen Tunnel unter die B 27 gegraben haben, sich darin verschanzten und prophezeiten, sie würden begraben, wenn der Transporter weiter rollt. Zu Hochzeiten des Protests, Ende der 1990er Jahre, wurden bei den Demonstrationen an die 3000 Teilnehmer gezählt. Und ungefähr ebenso viele Polizisten.

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Man könnte, beim Blick zurück, sagen, das jahrelange Engagement der Atomkraftgegner mutete absurd an: Sie haben gegen Block I gekämpft – ohne Erfolg. Sie wollten Block II verhindern – es ist ihnen nicht gelungen. Sie gingen gegen die Transporte auf die Straße – doch die Laster sind weiter gerollt. So lange, bis im Jahr 2005 auf dem GKN-Gelände ein unterirdisches Zwischenlager für den strahlenden Müll bereit stand. Auch das hatte natürlich niemand gewollt. Der Protest dagegen war, man weiß es, langwierig, aber letztlich erfolglos.

Birgit Riecker sieht das anders. „Unser Protest war nicht sinnlos“, sagt sie. Ohne den Widerstand hätten viele Menschen nie erfahren, wie gefährlich es sein kann, wenn Castorbehälter über die Straßen rollen. Und dass Atomkraft nicht so unbedenklich ist, wie es die Broschüren der Energiekonzerne suggerierten. Und wer weiß, mutmaßt Birgit Riecker, vielleicht wäre Deutschland ohne den Widerstand nicht so endgültig aus Atomenergie ausgestiegen.

Was wird aus dem Gelände?

Im März 2011 passierte Fukushima. Noch so eine Nuklearkatastrophe, die bis dahin unvorstellbar erschien. Sehr schnell hat Deutschland damals beschlossen, aus der Atomenergie auszusteigen. Am Ende jenes unvergesslichen Jahres ging im GKN Block I vom Netz. Ende des laufenden Jahres wird – das ist zumindest noch der Plan – Block II folgen. Wohin der radioaktive Müll entsorgt wird, der momentan noch im Zwischenlager geparkt wird, ist unklar. Weil es noch immer kein Endlager gibt, nicht mal einen Standort. Und was aus dem Gelände wird, wenn es in vielen Jahren geräumt sein wird, ist ebenfalls ungewiss. Man könnte auch sagen: Es ist nicht der Protest der Anti-Atombewegung, der absurd anmuten kann.

Sicher aber ist eins: Die Wolke, die Birgit und Rolf Riecker sehen, wann immer sie aus dem Fenster schauen, wird dann ausgedampft haben.