Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Gespräch mit Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan. Foto: dpa

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist der bislang längste. Um diesen in Zukunft weiter rechtfertigen zu können, bedarf es endlich eines klaren Kurses – und eines Planes für einen geordneten Rückzug, kommentiert Chefredakteur Christoph Reisinger.

Stuttgart - Der Schein trügt nicht: Zwar steht Afghanistan vor Parlamentswahlen. Die Lage aber spitzt sich zu in diesem Land, in dem sich die Bundeswehr seit 2002 engagiert, die deutsche Entwicklungshilfe noch länger. Und das hierzulande von manchen voreilig zum sicheren Herkunftsland von Zuwanderern verklärt worden ist.

Die Schüsse auf Bundeswehr-Transporthubschrauber haben am Dienstag in Erinnerung gerufen, was angesichts der täglichen Horrormeldungen aus dem syrischen Krieg zu weit in den Hintergrund getreten ist: Der Boden unter dem aktuell zweitgrößten Bundeswehr-Einsatz wird heißer.

Seit Ende der Kurzwaffenruhe zwischen Taliban und Regierung im Juli haben die Kämpfe in Afghanistan deutlich zugenommen. Zigtausende Menschen sind neu auf der Flucht. Besonders bedrückend: Die Zahl der getöteten Zivilisten erreicht nach Aussage des US-Generalinspekteurs für den Wiederaufbau Afghanistans vom 28. August „historische Höchststände“.

Zentrale politische Fragen sind bis heute nicht gelöst

Dass unter den Opfern von Krieg und Terrorismus zuletzt auch zehn Kandidaten für die Parlamentswahl waren, signalisiert: von Stabilität keine Spur. Es ist aus deutscher Warte nur ein schwacher Trost, dass von den täglich im Schnitt mehr als 50 gewalttätigen Attacken kaum einmal mehr die Bundeswehr betroffen ist. Das liegt allein daran, dass sich ihre Unterstützungsmission zur Stärkung der afghanischen Sicherheitskräfte, die 2015 auf 13 Jahre Kampf- und Stabilisierungseinsatz folgte, weitgehend auf stark gesicherte Lager beschränkt.

Nur ein schwacher Trost, weil die zentralen politischen Fragen in Berlin bis heute nicht gelöst, zum Teil noch nicht einmal gestellt sind, die über dem bisher längsten Bundeswehr-Einsatz stehen: Was will Deutschland damit noch bewirken? Wie wird Erfolg definiert? Noch über blühende Landschaften und demokratischen Rechtsstaat – so wie jahrelang nach dem militärischen Sieg über das Taliban-Regime 2003?

Afghanistan müsse sich selber helfen können – so vage wird im Außenministerium definiert, worum es gerade geht. Dieses Ziel ist aller Ehren wert. Aber auch nach dreieinhalb weiteren Jahren Verlängerung des Einsatzes scheint es sehr weit weg.

Afghanistan darf nicht ins totale Chaos zurückfallen

Afghanistans Regierung bleibt tief zerstritten. Zwar wäre es unredlich, Präsident Aschraf Ghani Teilerfolge abzusprechen, aber nichts nährt die Hoffnung, dass ihm der große Wurf, Befriedung und Einigung des Landes, gelingt. Schließlich listet die Weltbank Afghanistan unter den korruptesten vier von 180 untersuchten Ländern auf. Die Rohopium-Produktion soll im vergangen Jahr um 88 Prozent gestiegen sein. Die vielen Milliarden Euro, die seit 2003 in das bitterarme Land geflossen sind, haben der Hauptstadt Kabul zwar Immobilienpreise auf deutschem Großstadtniveau beschert. Doch von den 400 000 neuen Arbeitsstellen, die Afghanistan wegen seines extremen Bevölkerungswachstums jährlich bräuchte, schaffen sie kaum eine.

Bundeswehr raus!, ist darauf nicht die richtige deutsche Antwort. Zumindest nicht auf die Schnelle. Einen Rückfall Afghanistans ins totale Chaos und damit auch die Destabilisierung der benachbarten Atommacht Pakistan aktiv zu betreiben wäre mehr als fahrlässig. Aber das deutsche Engagement braucht endlich einen klaren Kurs: Welche Ziele sind noch bis wann zu erreichen, was sind die Voraussetzungen eines geordneten Rückzugs? Ohne solche Orientierung sind die politischen wie die finanziellen Kosten dieses Einsatzes in Deutschland nicht mehr zu rechtfertigen.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de