Der Fußball-Bundestrainer Joachim Löw demonstriert bei der Europameisterschaft in Frankreich die höchste Form der Unabhängigkeit.

Evian - José Meneses ist ein Mann, mit dem man nicht in Streit geraten möchte. Er trägt kurz geschorene Haare und beigefarbene Armeehosen, seine Blicke sind finster, seine tätowierten Oberarme dick wie Baumstämme. Meneses ist Bodyguard, unauffällig verrichtet er seit Jahren seinen Dienst rund um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Das macht er auch jetzt, bei der Europameisterschaft in Frankreich, und muss besonders auf der Hut sein, die Terrorgefahr könnte ja überall lauern. Fachfremde Zusatzschichten bleiben dem Koloss trotzdem nicht erspart.

Meneses ist bei der EM nicht nur für die Sicherheit zuständig, sondern auch für das Wohlbefinden des Bundestrainers. Kurz vor der Abfahrt zu den Spielen wird er von Joachim Löw jedes Mal als persönlicher Coach engagiert. Mit Fitnessbändern stählen sie im Fitnessraum des Mannschaftshotels die Muskeln – das wird auch an diesem Donnerstag in Marseille so sein, wo die DFB-Elf im EM-Halbfinale auf den französischen Gastgeber trifft. Auch diese Übungen tragen dazu bei, dass inzwischen auch Löw der Statur eines Bodyguards nahekommt. Dicke Adern treten aus seinem kräftigen Hals hervor, die Brustmuskulatur wölbt sich unter den engen Shirts, die der Bundestrainer gerne trägt.

Joachim Löw hat seine Einstellung zu seinem Beruf verändert

Der Körperbau ist nur ein sichtbarer Beleg dafür, dass sich Joachim Löw, als Stürmer einst zur Kategorie Spargeltarzan gehörend und auch als Trainer lange flachbrüstig geblieben, auf gewisse Weise neu erfunden hat. Er ist mit 56 Jahren kein anderer Mensch geworden, doch hat sich seine Einstellung zu seinem Beruf verändert. Es hat auf der Kommandobrücke der deutschen Nationalmannschaft noch keinen entspannteren Kapitän gegeben als Joachim Löw, den zehnten Bundestrainer in der Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes (DFB).

Mit Helmut Schön und Jupp Derwall waren nach den seligen Herberger-Zeiten gewissenhafte Verbandssoldaten im Amt, Franz Beckenbauer ging durchaus jähzornig ans Werk, Berti Vogts eher verbissen-verdruckst. Rudi Völler wurde durch seine jovial-verbindliche Art nach der missratenen Erich-Ribbeck-Episode zum Liebling der Fußballfamilie – der Jürgen Klinsmann mit seinem revolutionären Ansatz immer fremd blieb. Auch Löw begleiteten danach immer Vorbehalte. Sein Sinn für Ästhetik auch abseits des Rasens, seine taillierten Hemden, rosigen Wangen und sanften Worte blieben den Stammtischrunden immer suspekt.

Der Bundestrainer kann tun und lassen, was er will

Doch der WM-Titel 2014 in Brasilien hat ihn von allen Zweifeln befreit. Joachim Löw muss nichts mehr beweisen, er muss auch niemandem mehr gefallen. Er kann tun und lassen, was er will, er ist der Weltmeistertrainer – und das zeigt er seit zwei Jahren auch. In diesen EM-Wochen in Frankreich demonstriert der Bundestrainer nun endgültig die höchste Form der Unabhängigkeit, zu der notfalls auch der Griff in die eigene Hose vor laufenden Fernsehkameras gehört.

Joachim Löw betätigt sich als eine Art freischaffender Künstler, die Erwartungen der Öffentlichkeit interessieren ihn bestenfalls am Rande. Er hat Spieler wie Lukas Podolski mitgenommen – auch wenn er der Einzige ist, der in ihnen eine Hilfe sieht. Er verändert kurzfristig die monatelangen Planungen und gewährt seinen Spielern freie Tage, auch wenn sie der Abwehrspieler Mats Hummels vor dem Achtelfinale gegen die Slowakei für einen waghalsigen Sprung vom Zehnmeterbrett im Schwimmbad nutzt. Und er wirft vor dem Viertelfinale gegen Italien die komplette bisherige Taktik über den Haufen, auch wenn ihm genau das bei der EM 2012 zum Verhängnis geworden ist.

Unter seinen Mitarbeitern und innerhalb der Mannschaft genießt er höchstes Ansehen

Scharfe Kritik gab es damals wie heute. Schwer getroffen hat sie ihn vor vier Jahren, als ihn viele gerne aus dem Amt gejagt hätten. Völlig egal ist sie ihm jetzt, was nicht allein daran liegen dürfte, dass die Italiener endlich besiegt wurden. „Jeder darf seine Meinung haben“, sagt Löw gelangweilt – und ärgert sich nur darüber, dass Urs Siegenthaler, sein langjähriger Berater in allen Fragen der Taktik, öffentlich an den Pranger gestellt wurde.

Auch das ist ein Grund dafür, dass Löw innerhalb der Mannschaft und unter seinen Mitarbeitern höchstes Ansehen genießt. Nie käme Löw auf die Idee, einen seiner Vertrauten bloßzustellen. Mit seiner natürlichen Autorität und seinem Gespür für Stimmungen hat er ein Klima geschaffen, das auf gegenseitigem Respekt beruht. Löw muss sich nicht anstrengen, um allen das Gefühl zu geben, ein wichtiger Teil zu sein – egal ob es der Busfahrer ist oder ein Starspieler, der wochenlang nur im Training sein Können zeigen darf. „Jogi war schon immer ein guter Mensch“, sagt der Assistenztrainer Thomas Schneider, der unter Löw vor 20 Jahren beim VfB Stuttgart gespielt hat: „Er hat sich seither unfassbar weiterentwickelt.“

Die Frage nach seinem Rücktritt – diese Frage stellt keiner mehr

Als „Supervisor“ wird Löw von Marcus Sorg betrachtet. Der Bundestrainer hat ihn vor der EM als weiteren Assistenten hinzugeholt, damit er sich nicht mehr um alles kümmern muss. Die Medienarbeit hingegen übernimmt der Chef erstaunlicherweise selbst. In Brasilien war er nur dann im Pressezelt erschienen, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden ließ – in Évian ist er zu einem Dauergast geworden, der geduldig auch die sinnloseste Frage beantwortet und regelmäßiges Gelächter erzeugt. Bisweilen hat man den Eindruck, Löw mache sich einen Spaß aus diesen ritualisierten Fragerunden, die er seit zehn Jahren kennt.

Eine Frage aber hat der Bundestrainer in Frankreich nicht gehört – bei seinen vorherigen vier Turnieren kam sie regelmäßig: Ob er an einen Rücktritt denke, sollte seine Mannschaft frühzeitig scheitern. Kein Journalist hat sie dieses Mal vorgebracht, denn keiner käme mehr auf die Idee, den Bundestrainer infrage zu stellen. Sicher auch dann nicht, wenn die deutsche Mannschaft zum ersten Mal in Löws Amtszeit schon vor dem Halbfinale die Heimreise hätte antreten müssen.

Der Sieg in Brasilien war wie eine „herrliche Droge“ – das will er wieder

Ein frühes Aus in Brasilien hätte dagegen sein Aus besiegelt, bei einem Titelgewinn, so glaubten damals viele, würde er freiwillig gehen. So wie Beckenbauer, weil es dann nichts mehr zu erreichen gäbe. Löw hat weitergemacht – nicht nur weil er der erste Bundestrainer werden könnte, der nach dem WM-Pokal auch die EM-Trophäe gewinnt, sondern auch weil er die Freiheiten seines Amts, die nach Brasilien noch größer geworden sind, zu schätzen weiß. Er hat monatelang frei, kann in Freiburg im Kaffeehaus sitzen und in Berlin über rote Teppiche laufen. Er hat sich ein Apartment am Potsdamer Platz als Zweitwohnsitz zugelegt und genießt das süße Leben in der Hauptstadt. Es gibt daher keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Löw die deutsche Elf auch zur WM 2018 führen wird, egal wie die EM zu Ende geht.

Wie eine „herrliche Droge“ habe der Sieg in Brasilien gewirkt, das hat Joachim Löw schon vor der Reise nach Frankreich gesagt: „Doch die Euphorie geht vorbei, irgendwann ist sie weg. Ich würde es deshalb so gerne noch einmal rausholen und ein paar Tage festhalten, denn ich weiß, es wird nicht für immer sein.“ Für immer aber bleibt vermutlich dieses wohlige Gefühl der Freiheit und Unantastbarkeit – und wenn er seinen Dienst als Bundestrainer noch weitere zehn Jahre verrichtet.