Dieses Selfie der Kanzlerin mit einem Flüchtling in Berlin ging im Sommer 2015 um die Welt. Im Bürgerkriegsland Syrien ist Merkel wegen ihrer Asylpolitik sehr beliebt. Foto: dpa

Ein Flüchtling aus Syrien, der in einer Unterkunft auf den Fildern lebt, erzählt, wie er den deutschen Wahlkampf erlebt, was freie Wahlen für ihn bedeuten und warum Syrer Angela Merkel wählen würden.

Möhringen - Die kommende Bundestagswahl würde ganz schön langweilig werden, wenn nur syrische Flüchtlinge wählen könnten, glaubt Mahmoud al-Shater. Angela Merkel bekäme sicher 100 Prozent, meint er. Der Syrer heißt in Wirklichkeit anders. Da er noch Verwandte in Damaskus hat, will er nicht mit Namen erkannt werden, wenn er in einer deutschen Zeitung über Politik spricht.

Der 41-jährige Mann aus Damaskus kann erklären, warum bei dem Gedankenspiel einer Bundestagswahl allein unter syrischen Flüchtlingen ein Ergebnis zustande käme, dass an die Diktatur in seiner Heimat erinnert. Es gebe unter den Syrern in Deutschland ein großes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Frau Merkel, sagt er. Egal, ob der eine oder andere mittlerweile enttäuscht sei von der Praxis der deutschen Flüchtlingspolitik, kein Syrer lasse etwas auf die deutsche Bundeskanzlerin kommen, sagt al-Shater. Er sitzt in einem Aufenthaltsraum der Möhringer Flüchtlingsunterkunft am Lautlinger Weg und wirkt nachdenklich: „Wir haben erlebt, wie die ganze Welt uns den Rücken kehrt bis auf Frau Merkel. Das werden wir ihr niemals vergessen“, sagt er.

Viele Syrer verehren Merkel

Es scheint so, als hätte die CDU-Vorsitzende einen unerschütterlichen Fan im Flüchtlingsheim. Der Syrer al-Shater lächelt, als er auf Facebook-Seiten angesprochen wird, auf denen Landsleute 2015 Angela Merkel zur „Mutter aller Syrer“ erkoren. Andere Syrer verglichen sie damals mit dem im Koran gepriesenen abessinischen Herrscher, dem christlichen Negus von Äthiopien. Der König hatte in der islamischen Frühzeit verfolgten Muslimen von der arabischen Halbinsel Schutz geboten. Und der sozialdemokratische Herausforderer der bei den Syrern so beliebten Kanzlerin? Über Martin Schulz wisse er wenig, sagt al-Shater. Die SPD gefalle ihm aber als Partei, da sie sich für das Soziale einsetze.

Der Computer-Fachmann, der mit Merkel sympathisiert, aber die SPD gut findet, erinnert in erstaunlicher Weise an das, was Politikwissenschaftler am Wahlverhalten der Deutschen beobachten. Die Bundeskanzlerin einer konservativen Partei kommt auch bei Mitte-Links-Wählern gut an. Der Syrer nennt auch einen anderen Grund, warum er seine Stimme der CDU geben würde. „Ich wünsche mir, dass alles so bleibt, wie es ist. Weil es für Deutschland gut ist und auch für uns Flüchtlinge.“

Auch dieses Argument dürfte manchem Deutschen bei Diskussionen in der Familie oder im Freundeskreis bekannt vorkommen. Al-Shater findet es spannend, den deutschen Bundestagswahlkampf zu erleben. Gleichzeitig macht es den Syrer traurig. Millionen Syrer forderten auf Demonstrationen 2011 Reformen, in erster Linie freie und faire Wahlen in ihrem Land. Dem friedlichen Aufbegehren folgte der blutigste Krieg der Gegenwart. Heute scheint die halbe Welt in ihn verstrickt zu sein. Der 41-Jährige wundert sich manchmal, wenn Deutsche ihn fragen, was er von dem politischen System in der Bundesrepublik hält. Sicher, Syrien sei zwar unter dem Assad-Clan ein abgeschottetes System gewesen. Aber es gab auch in Syrien eine Zeit vor den Assads, sagt er. Die Syrer würden glänzende Augen bekommen, wenn sie alte Fotografien aus den 50er Jahren sehen, sagt er. Denn die gute alte Zeit sei gerade in den Wirren der Gegenwart für viele Syrer süßer als Zucker.

Demonstranten verlangten freie Wahlen

Al-Shater nennt den Grund, warum das alte Syrien ein Land war, in dem es sich ganz gut lebte: Auch wenn das Militär gelegentlich putschte, gab es immer freie Wahlen. Deshalb stehe es für ihn außer Frage, dass nur politische Freiheit einem Land Wohlstand ermöglicht, sagt er. Die sozialistische Baath-Partei übernahm 1963 in einem Staatsstreich die Macht und orientierte das Land an der ehemaligen UdSSR. Bashar-al-Assads Vater Hafiz stieg zum allmächtigen Diktator auf. Wahlen dienten nur noch als Fassade für die Herrschaft des Familienclans der Assads.

Mahmoud al-Shater erinnert sich, wie die Syrer alle vier Jahre bei den Parlamentswahlen zu den Urnen strömten, um das zu tun, was sie unter vier Augen einen Witz nannten. „Bei unseren Wahlen stehen die Geheimdienstleute um die Urnen herum. Da kreuzt jeder nur ,Ja’ an“, erzählt al-Shater. Ja zum Präsidenten, der immer Assad heißt. Ja zur Staatspartei und ihren Blockparteien – das seien die einzigen Optionen beim Witz der syrischen Wahlen, meint der Flüchtling. Zu Hause bleiben, um so wenigstens nicht bei der Farce mitmachen zu müssen, sei eine schlechte Idee, fügt er hinzu. Wer denunziert werde, werde als „negative Person“ registriert und stehe mit einem Bein schon im gefürchteten syrischen Gefängnis- und Lagersystem.

Denunzianten lauern überall

Al-Shater erzählt, dass er einmal versucht habe, sich vor der unangenehmen Pflicht zu drücken. Als ihn am Wahltag ein Polizist ansprach, er solle jetzt wählen gehen, sagte er, er komme gerade erst aus dem Wahlbüro. „Der Polizist meinte, das mache doch nichts. Ich solle einfach noch einmal wählen gehen“, sagt er. Al-Shater ist seit zwei Jahren in Deutschland. Auch er hat mitbekommen, dass nicht alle Deutsche zufrieden sind mit ihrer Regierung. Der Syrer findet, dass offener umgegangen werden sollte mit den Kritikern der Flüchtlingspolitik. Die Deutschen würden sich scheuen, manche Dinge auszusprechen, vielleicht, weil sie sich nicht gerne streiten, vermutet er. Eine Demokratie könne Pegida aushalten, findet er. „Klar machen mir solche Bewegungen als Flüchtling ein bisschen Angst. Aber am Ende entscheidet doch das Volk“, sagt er.

Deutsche sollten mehr streiten

Er klingt gelassen. Als würde er darauf vertrauen, dass in einer Demokratie schon nichts schief gehen kann. Der ein oder andere Deutsche dürfte den Syrer nach den Wahlen und Referenden der vergangenen Jahre in Europa und den USA um seine Zuversicht beneiden.