Großstädte wählen anders als der ländliche Raum – ist das wirklich so? Und wenn ja, was steckt dahinter? Tübinger Forscher kennen die Antwort für jede Gemeinde im Land.
Zwischen Grundsheim und Freiburg liegen 136 Kilometer Luftlinie – und für die CDU 53,5 Prozentpunkte, jedenfalls bei der letzten bundesweiten Wahl. In der oberschwäbischen Gemeinde kamen die Christdemokraten für ihr landesweit bestes Ergebnis bei der Europawahl im Juni auf 68,9 Prozent der Stimmen, im Breisgau nur auf 15,4 Prozent – nirgends waren es weniger.
Solche Unterschiede kennen die meisten Parteien, und sie werden auch bei der Bundestagswahl am 23. Februar erwartet. Die AfD kratzt in der Grünen-Hochburg Tübingen an der 5-Prozent-Hürde (Europawahlergebnis 4,6 Prozent), während sie etwa in Spiegelberg (Rems-Murr-Kreis) fast jede dritte Stimme bekam.
Was Bevölkerungs- und Strukturdaten mit Wahlerfolgen der in Teilen rechtsextremen AfD zu tun haben, erforscht das Tübinger Institut für Rechtsextremismusforschung (IRex). Gemeinden mit hohem AfD-Stimmenanteil haben beispielsweise einen höheren Männeranteil, niedrigere Steuereinnahmen und Kaufkraft sowie eine höhere Distanz zu Angeboten des täglichen Bedarfs wie Supermärkten, Apotheken oder Hausärzten. „Die Faktoren variieren zwischen den Bundesländern“, sagt Bjarne Pfau vom IRex. Eines ist ihm aber aufgefallen: „Gerade der Grad der Ländlichkeit einer Gemeinde scheint einen Einfluss auf den AfD-Zweitstimmenanteil zu haben“.
Wo die CDU gewählt wird – und wo nicht
Wird in kleinen Gemeinden abseits der Zentren anders abgestimmt als im Speckgürtel der Großstädte? Tendenziell ja, das zeigen Berechnungen unserer Zeitung – nicht nur für die AfD. Die Grundlage dafür sind sogenannte Raumgliederungen, die alle Städte und Gemeinden bestimmten Raumtypen zuordnet – je nach Gemeindegröße und der Lage in einem stärker verdichteten (urbanen) oder einem weniger dicht besiedelten (ländlichen) Raum. Die Grafik stellt das Ergebnis beispielhaft für die CDU dar: Je kleiner eine Gemeinde – und je ländlicher –, desto mehr Stimmen haben die Christdemokraten bei der Europawahl erhalten.
Bei der AfD ist das Muster ganz ähnlich: je kleiner und ländlicher eine Gemeinde, desto mehr Stimmen erhält die Partei. Für Grüne und SPD zeigt sich das umgekehrte Bild: viele Stimmen in den Großstädten, deutlich weniger in kleineren Gemeinden oder Dörfern. Zudem stimmten in ländlichen Räumen durchweg weniger Menschen für SPD oder Grüne ab als in dichter besiedelten Gegenden.
Ticken Städter anders?
Vor allem Großstädte wählen anders als der Rest des Landes. Die CDU holt dort im Mittel acht Prozentpunkte weniger Stimmen als anderswo. Bei Grünen und AfD beträgt der Unterschied fünf Prozentpunkte, bei der SPD etwas weniger. Die anderen fünf Raumtypen liegen hingegen die mittleren Werte bei allen Parteien recht nah beieinander. „Die städtische Bevölkerung ist im Mittel jünger, formal besser gebildet und eher konfessionslos als die ländliche Bevölkerung“, schreibt die Konrad-Adenauer-Stiftung in der 2020 erschienenen Analyse „Ticken Städter anders?“. Außerdem blicke sie anders auf die Welt: In Großstädten leben demnach weniger Pessimisten und Großstädter sind zufriedener mit der Demokratie und eher politisch interessiert.
Trotz der Trends gibt es bei den Wahlergebnissen Ausreißer. Teilweise unterscheiden sich die Wahlergebnisse von strukturell ähnlichen Gemeinden stark, und in Pforzheim feiert die AfD anders als in den anderen Großstädten regelmäßig beträchtliche Wahlerfolge. Die Ergebnisse in Konstanz und Tübingen hängen stark mit deren Status als Universitätsstädte zusammen. Andererseits strahlen die Großstädte auf die Gemeinden in ihrem direkten Umland gewissermaßen ab: Rund um Freiburg sind die Grünen ebenfalls sehr stark, die AfD dagegen schwach.
Jede Gemeinde in eine Kategorie
Mögliche Gründe benennen die Tübinger IRex-Forscher: „Die Raumgliederung ist für unser Vorgehen nur bedingt nutzbar”, erklärt Tim Fröhlich. Relevant für die Einteilung sind die Gemeindeverbände, weshalb beispielsweise Althütte (4200 Einwohner, Gemeindeverband Backnang) in dieselbe Kategorie fällt wie die Kreisstadt Tübingen (94.000 Einwohner). Darüber hinaus gibt es weitere für die Wahlergebnisse relevante Faktoren: „Freiburg und Pforzheim sind ähnlich groß, unterscheiden sich aber beispielsweise stark beim Akademikeranteil und der durchschnittlichen Kaufkraft”, so Fröhlich.
Das Wahlergebnis ist also nicht nur, aber auch eine Frage des Wohnorts. Gut ein Viertel der Stimmenanteile der AfD können die Tübinger Forscher damit für zurückliegende Wahlen in Zusammenhang bringen. Die Daten verraten etwas über die Lebenswelt, die die Wahl einer Partei wahrscheinlicher macht oder nicht. Um Wahlergebnisse wirklich zu erklären „müssen wir zusätzlich einzelne Wähler befragen und ihre Motive auch im Rahmen ihrer räumliche Zusammenhänge verstehen“, so die Tübinger Forscher Pfau und Fröhlich.