Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich auf die Seite der SPD geschlagen, die schon länger eine Abkehr von den Inzidenzwerten fordert. Foto: AFP/Tobias Schwarz

Das Coronakabinett hat Minister Spahn mit einem entsprechenden Entwurf beauftragt. Noch vor der Wahl wird damit die Zahl der Krankenhausüberweisungen zum zentralen Richtwert der Pandemiebekämpfung.

Berlin - „Die 50er-Inzidenz im Gesetz hat ausgedient“ – mit diesem Satz im Frühstücksfernsehen hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine inzwischen monatelange Debatte über die Kriterien für staatliche Schutzmaßnahmen im weiteren Pandemieverlauf faktisch beendet. Das Coronakabinett der Bundesregierung fasste am Montag zwar noch keinen förmlichen Beschluss, beauftragte nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Seibert jedoch Spahns Ministerium, einen Gesetzentwurf mit neuen Richtwerten für mögliche Einschränkungen auszuarbeiten. Der Gesundheitsminister selbst hatte vorgeschlagen, künftig mit der Hospitalisierung zu operieren, also der Zahl von Menschen, die mit einer Covid-19-Erkrankung ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen.

Im Infektionsschutzgesetz fordern zwei Zahlenwerte zum Handeln auf. Wenn in einem Landkreis wöchentlich mehr als 35 Corona-Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner gemeldet werden, sind die Behörden verpflichtet, „breit angelegte Schutzmaßnahmen zu ergreifen“. Bei einer sogenannten Inzidenz von 50 und mehr sind „umfassende Schutzmaßnahmen“ gefordert, mit denen „eine effektive Eindämmung“ der Ansteckungen erfolgen kann. Ursprünglich sollten diese Zahlen widerspiegeln, dass die Gesundheitsämter unterhalb diese Schwelle gerade noch die Kontakte Infizierter nachverfolgen können, jenseits dessen die Lage aber außer Kontrolle gerät.

Einschränkungen nicht gerechtfertigt

Mit der steigenden Quote vollständig geimpfter Personen, die inzwischen bei 59 Prozent liegt, hat sich die Ausgangslage jedoch grundlegend geändert. „Wenn die Inzidenzen steigen, aber wegen hoher Impfquote wenige Bürger ins Krankenhaus müssen, liegt keine Gefahr vor, die erhebliche Grundrechtseingriffe rechtfertigen könnte“, sagte Johannes Fechner, rechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, unserer Zeitung. Daher werde man das Gesetz so ändern, „dass die Krankenhausauslastung das entscheidende Kriterium wird, ob eine Gefahr für die Bevölkerung besteht, die Schutzmaßnahmen erfordert und rechtfertigt.“

Das soll nach Spahns Willen die sogenannte Hospitalisierungs-Inzidenz werden, die das Robert-Koch-Institut seit einiger Zeit ebenfalls erfasst. Analog zu den Ansteckungszahlen werden die Fälle der coronabedingten Krankenhauseinweisungen pro 100 000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen errechnet. Sie liegt aktuell bei 1,28, auf dem Höhepunkt der dritten Welle im Winter lag sie zwischen zehn und zwölf. Dazu, ob im neuen Infektionsschutzgesetz eine konkrete Zahl genannt wird oder das Handeln ins Ermessen der jeweiligen Landesregierung gestellt wird, wollten sich die Sprecher der Bundesregierung am Montag noch nicht äußern. Sie verwiesen allerdings darauf, dass die Krankenhausüberlastung auf dem Land zu einem früheren Zeitpunkt drohen könnte als in Großstädten.

Rechtsunsicherheit in Baden-Württemberg

Rechtsunsicherheit im Südwesten

Druck auf die Regierung und die bis zuletzt skeptische Unionsfraktion üben auch Urteile wie das des Oberverwaltungsgerichts Niedersachsen aus, das Ende Juli eine Gesetzesanpassung an die neuen Gegebenheiten gefordert hatte. Zudem war Rechtsunsicherheit entstanden, da Länder wie Nordrhein-Westfalen, Berlin oder Baden-Württemberg von ihren Infektionszahlen her eigentlich neue Einschränkungen beschließen müssten, de facto aber wegen der hohen Impfquote neue Öffnungsschritte beschlossen haben. „Gut, dass Herr Spahn das jetzt auch erkannt hat“, so Fechner, dessen SPD-Fraktion schon länger eine Streichung der Werte fordert: „Die Union hat eine Gesetzesänderung hierzu noch letzte Woche abgelehnt.“

Am Montag fand zu dem Thema noch ein Bund-Länder-Treffen statt. Theoretisch könnte der Bundestag das neue Infektionsschutzgesetz bereits an diesem Mittwoch in erster Lesung beraten, wenn das Parlament zu einer Sondersitzung wegen Afghanistan zusammentritt. Spätestens soll das in der Sitzung Anfang September geschehen.