Anton Hofreiter beim Bundesparteitag der Grünen in Berlin Foto: dpa

Drei Tage lang beschließen die Grünen auf dem Bundesparteitag in Berlin ihr neues Wahlprogramm. Ein Besuch im lauten und chaotischen Herzen der grünen Aktivisten.

Berlin - Unter tosendem Applaus betritt Cem Özdemir die Bühne. Laute Popmusik dröhnt aus riesigen Lautsprechern von der Decke. Hier, in einer Fahrradsporthalle am Rande Berlins, wo gelegentlich internationale Superstars ihre Fans mit rhythmischen Klängen beschallen, will der Spitzenkandidat der Grünen mit seiner Rede zum Aufbruch aufrufen. Er sagt Sätze wie „wir sagen zu all jenen Mauernbauern innerhalb und außerhalb Europas: ihr. Sperrt. uns. nicht. ein!“, oder „das Eis in der Antarktis interessiert es nicht, ob es wegen amerikanischer Blödheit oder deutscher Trägheit schmilzt.“

Immer wieder reißt er dabei wild die Arme nach oben, genießt wie ein Superstar den Jubel seiner Parteifreunde und wartet geduldig, bis die Menge wieder verstummt. Hinter ihm, direkt auf der Bühne, stehen hundert Bundestagskandidaten, er selbst ist umringt von zahlreichen Fotografen, und vor ihm, sitzen rund 850 Delegierte aus allen Bundesländern der Republik. Gebannt lauschen sie den Worten ihres gewählten Spitzenkandidaten, die den Startschuss zum Bundesparteitag der Grünen in Berlin markieren.

Keine Mauern in Europa

Denn hier will die Partei drei Tage lang in endlosen Reden und Abstimmungen ihr neues Wahlprogramm beschließen. Dafür haben sie sich viel vorgenommen: Nicht nur soll das Programm den erhofften Aufschwung für die Bundestagswahl im Herbst bringen, sondern auch die Partei wieder zurück zu sich selbst führen. Theoretisch gesehen ein Parteitag wie jeder andere, nur eben nicht für mich.

Es ist mein erster Parteitag und nicht nur die Vielzahl von Themen, Reden und Anträgen stürmt auf mich ein, sondern auch viele Fragen: Wie genau funktioniert das eigentlich alles? Wer sind all die Delegierten, die brav geordnet nach Bundesländern in der riesigen Halle an Tischen sitzen? Und wie grün sind diese Grünen denn nun wirklich? Auf den ersten Blick sieht alles ziemlich öko aus: Von den Ständen mit Blumentöpfen über den Biokuchen im Restaurant bis hin zu kostenlos verteilten Jutebeutel - zumindest optisch scheint die grüne Partei noch wirklich grün zu sein.

Was bewegt das grüne Herz?

Was aber sind die Inhalte, welche Themen bewegen heute noch das grüne Herz? Das Programm reicht von Radwegen über Kindergeld bis hin zur Flüchtlingspolitik, ein Großteil der Forderungen steht unter dem Motto: „Umwelt im Kopf“. Der Programmentwurf ist 106 Seiten lang, ein dickes Bündel an Papier, das ich in der Hektik des Tages einfach nicht schaffe, ganz zu lesen. Dazu kommen noch 2200 Änderungsanträge, deren einzelne Namen für noch mehr Verwirrung sorgen. Sie heißen FH-TV-01-051-2 und so schnell, wie Geschäftsführer Michael Kellner über die einzelnen Anträge spricht, kann ich in meiner Pressemappe voller Seiten gar nicht blättern. Auch der Tagesablauf offenbart: Die einzelnen Tage sind voll mit Abstimmungen und Reden und folgen dabei immer dem gleichen Schema: Gastrede, Einbringung, Debatte, Abstimmung, Schlussabstimmung. Dabei geht es oft nur um einzelne Wörter oder Begriffe, über die ausführlich und manchmal quälend langsam diskutiert und abgestimmt wird.

In einem schier endlosen Abstimmungsmarathon fällt es mir schwer, den Überblick über die Informationsflut zu behalten und stundenlang Argumenten und Gegenargumenten zu lauschen. Auch für’s Essen bleibt nicht viel Zeit, zu groß ist die Angst, etwas wichtiges zu verpassen. In der Halle selbst driften meine Gedanken plötzlich ab und ich erwische mich dabei, wie ich verwundert die Parteimitglieder mustere. Während der amerikanische Gastredner Daniel Kammer, Professor für Energie aus Kalifornien, das Kapitel „Deutschland als Vorreiter im Klimaschutz“ einleitet, beginnen zwei Delegierte im Lager von Hessen nebenbei seelenruhig zu stricken, unter dem Tisch von Schleswig-Holstein kläfft plötzlich ein winziger Schoßhund und im Berliner Lager blitzt hier und da ein Tattoo im Nacken auf und gerade die Jüngeren tragen Rucksäcke einer bekannten skandinavischen Marke - es wäre einfach zu leicht sie als neumodische Hipster abzustempeln.

Endlose Abstimmungen müssen sein

Wer aus welchen Bundesland kommt, zeigen kleine grüne Fähnchen, die am Ende der langen Tischreihen stehen. Die meisten Delegierten sind Gemeinderäte oder Bezirksvorsteher in ihren eigenen Kommunen und kennen das politische System. Auf dem Parteitag kann und soll sich jeder von ihnen an den Debatten beteiligen. Wer eine Rede halten will, kann seinen Hut in einen Los-Topf werfen. Erstaunlich viele junge Redner trauen sich auf die Bühne und setzen sich mal stockend, mal selbstbewusst für den Klimaschutz, Menschenrechte oder Europa ein. Genau drei Minuten darf jeder Redner sprechen, dann folgt ein sanftes „kommst du bitte zum Ende?“ vom Präsidium auf der Bühne.

Wer aber nicht am Rednerpult steht, streckt bei jeder Abstimmung eine kleine grüne Karte in die Luft, hier gewinnt immer die Mehrheit. Zwischen den Delegierten sitzen ganz unscheinbar auch bekannte Politiker wie etwa Jürgen Trittin, Renate Künast oder Anton Hofreiter. Das Schöne daran: ganz demokratisch zählen auch ihre Stimmen genauso viel, wie die der anderen. Kurz bevor Fraktionschef Hofreiter mit einem Plädoyer für den Klimaschutz und die Grünen selbst beginnt, schlendern ungeschminkte Mütter mit ihren Kindern zwischen Tischreihen hindurch, das Kind an der einen und den Apfel in der anderen Hand.

Anton Hofreiter: „Die Welt braucht es, verändert zu werden“

Aber auch sie werden in wenigen Minuten von der Wutrede Hofreiters aufgeschreckt werden, der in nur 17 Minuten die Grünen aufweckt, wachrüttelt und die Sachen auf den Punkt bringt: Längst gehe es nicht mehr nur darum, den Planeten zu retten, sondern „um unsere Lebensgrundlage“, denn der Klimawandel gehöre endlich gestoppt. Hofreiter redet sich in Rage, wirft Angela Merkel eine miserable Öko-Bilanz vor und verlangt von ihr, endlich dem Klimasündern Donald Trump auf dem G20-Gipfel Anfang Juli in Hamburg die Meinung zu geigen, ihm nicht länger nachzurennen und endlich hart zu sein.

Dann attackiert er empört die Bundesregierung: Die CO2-Bilanz sei eine „Katastrophe“, Schuld daran sind für Hofreiter nicht etwa Länder wie Indien oder die China, denn nicht sie seien es, die am meisten Braunkohle verbrennen, sondern Deutschland. Dort sitzen für Hofreiter auch der größten Dieselbetrüger, wie etwa VW, ewig behütet vom „verantwortungslosen Verkehrsminister“. So kritisiert Hofreiter Trump, Merkel, VW und beschreibt obendrein die massiven Auswirkungen des Klimawandels, die das Kind in Bangladesch, die Bauernfamilie in Mali und auch Europa betreffen. „Es ist die zentrale Existenzfrage, um die wir hier ringen“, ruft er empört und endet mit dem Satz: „Wir wollen regieren, um zu verändern. Denn die Welt es braucht, verändert zu werden.“ Es folgen drei Minuten Applaus und plötzlich wird es auch für mich spürbar: dieser grüne Optimismus und das Gefühl, endlich was zu bewegen zu müssen.

Mein Fazit:

Mein Fazit nach anderthalb Tagen Parteitag: Diskussionswütig sind sie, die Grünen. Viele Kleinigkeiten werden ausführlich besprochen, manchmal ziehen sich Abstimmungen quälend lange hin. Laut, chaotisch und kaum überschaubar, ist der Parteitag nicht nur für mich eine echte Herausforderung. Ob am Ende nach schier endlosen Debatten am Schluss doch noch ein einheitliches Wahlprogramm zustande kommt?

Im nicht enden wollenden Rede-Marathon sind es mal Gastredner wie die Klima-Aktivistin Yolanda Joab aus Makronesien, deren Inselstaat und Heimat durch die Klimakrise im Meer zu versinken droht, die einen aufhorchen lassen und wachrütteln. Mal sind es charismatische Redner wie Cem Özdemir oder Anton Hofreiter, die mit ihrer Rhetorik und radikalen Logik zu denken geben. So geht der Parteitag der Grünen nicht ganz spurlos an mir vorbei. Wie wohl die anderen Parteitage so sind? Ein bisschen neugierig bin ich schon, aber der nächste Parteitag muss nicht unbedingt schon morgen sein.