Akten und Akten, Formulare und Formulare – so weit das Auge reicht. Foto: Fotolia/fotodesign-jegg.de

Zu viel Bürokratie bringt uns um Fortschritt und Wohlstand, manchmal sogar um den Verstand. Leser schildern, was sie in der Welt der Vorschriften und Verwaltungen erlebt haben.

Stuttgart - Die Sache erforderte Tempo. Auf dem Höhepunkt der Krise vor rund drei Jahren überlegte Tübingens Oberbürgermeister, wie eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge zügig in seiner Stadt eingerichtet werden könnte. Aber es sollte auch mit Sinn und Verstand gebaut werden – also kein Haus hingestellt werden, das nach Abflauen des Flüchtlingszustroms leer herumsteht.

Deshalb schlug Boris Palmer vor, das Quartier für die Flüchtlinge so auszulegen, dass es später als Studentenheim genutzt werden könnte. Ein sofort einsichtiger Plan für die Universitätsstadt Tübingen, in der günstiger Wohnraum Mangelware ist. Doch Palmer musste lernen, dass sich die amtlichen Regeln, wie die Kochgelegenheiten in Flüchtlingsheimen und die in Studentenheimen auszusehen haben, unterscheiden. So blieb es bei der schönen Idee.

„Als Schwabe, Ökologe und OB könnte ich jedes Mal auf der Sau raus, wenn ich das fast leere Gebäude sehe, das wir trotz größter Wohnungsnot nicht mal als Studentenwohnheim weiter verwenden können“, schimpft Palmer heute. „Aber gegen die Kombination aus Zeitdruck und Bürokratie war im Herbst 2015 nichts zu machen.“

Der Staatsdiener Palmer war auf Gesetze und Vorschriften gestoßen, die seine Vorhaben behindern statt befördern – eine Erfahrung, die viele Bürger tagtäglich machen: Sie haben Ärger, weil beim Vereinsfest Kuchen ausgegeben wurde, ohne dass dranstand, ob er Nüsse enthält. Sie verzweifeln, weil sie ihre kranke Mutter zwar gerne pflegen wollen, aber bei den Krankenkassen nicht auf Hilfe, sondern nur auf einen Wust von Vorschriften stoßen. Sie jaulen auf, weil sie das komplizierte Steuerrecht zur Verzweiflung treibt. Zu viel Bürokratie bringt uns um Fortschritt und Wohlstand, manchmal sogar um den Verstand.

Hier schildern Leser, was sie in der Welt der Vorschriften und Verwaltungen erlebt haben:

Frank Schwietert, Weil der Stadt: Wenn der Chefarzt ruft

„Nach einer Bandscheibenoperation bestellt mich der operierende Chefarzt einmal jährlich zur Nachkontrolle. Dazu benötige ich eine Überweisung vom Orthopäden. Der wiederum benötigt eine Überweisung von meinem Hausarzt. Beide Überweisungen werden von Sprechstundenhilfen ausgestellt.

Die überweisenden Ärzte bekommen mich nicht zu Gesicht. Ich gehe aber davon aus, dass beide der Krankenkasse zumindest eine Beratung in Rechnung stellen. Ich verstehe die Absicht dieser Regelung. Sie soll verhüten, dass ich aus Jux und Tollerei gleich zum Krankenhaus-Chefarzt gehe, wenn mich irgendein Wehwehchen plagt. Wenn mich aber der Chefarzt selbst einbestellt (und dies kann er ja bei seiner Kassenabrechnung vermerken), dann sind ein oder sogar zwei Überweisungen völlig unnötig. Sie blähen nur die Kosten des Gesundheitssystems auf. Und dann kommt irgendwann wieder eine Pressemitteilung, dass die Deutschen viel häufiger zum Arzt gehen als beispielsweise die Skandinavier. Vielleicht haben die einfach nur eine andere ‚Überweisungskultur‘?“

Klaus Hochmuth, Weissach: Energie auf dem Dach

„Wir sind ganz normale Steuerzahler. Unsere Lohnsteuer wird jeden Monat pünktlich vom Gehalt abgezogen. Als wir dann aber auf unserem Eigenheim eine Fotovoltaikanlage installieren ließen, wurden wir unvermittelt ‚Kleinunternehmer‘. Damit verbunden ist die Pflicht, im ersten und zweiten Geschäftsjahr monatlich (!) eine Umsatzsteuer-Voranmeldung mit einer Umsatzsteuer-Vorauszahlung in Höhe von 16,91 Euro durchzuführen. Auch nach Rücksprache konnten wir keine Verwaltungsvereinfachung erhalten. Vergisst man diese monatlich erforderliche Voranmeldung einmal, so wird man rüde gemahnt. Gegebenenfalls muss man zur Strafe ein weiteres Jahr die Voranmeldung monatlich durchführen. Erst danach darf man dann die Umsatzsteuer-Voranmeldung einmal jährlich erbringen.

Der ganze Vorgang ist für einen Menschen mit gesundem Menschenverstand schwer zu ertragen. Zumal wenn man sieht, wie hilflos unsere Bürokratie bei Geldanlagen in Panama, Irland oder den Niederlanden ist oder wie schwierig es ist, die Steuerbetrüger von Cum-Ex-Geschäften zur Verantwortung zu ziehen.

Dazu kommt noch, dass wir bei einem Besuch im Nachbarbundesland Hessen feststellten, dass die Behauptung der baden-württembergischen Finanzbeamten, die monatliche Eingabe sei zwingend, dort nicht zutraf. In Hessen konnte ein Bekannter sofort in eine jährliche Erklärung einsteigen.“

Jaqueline Obermiller, Botnang: Die Führerscheinprüfung

„Unsere Tochter wollte gerne den Führerschein mit 17 machen. Wir stimmten zu, und ich ging mit ihr zur Meldestelle. Aber was musste ich dort lernen? Ich als Mutter konnte unsere ebenfalls anwesende Tochter nicht anmelden, da mein Mann nicht ebenfalls dabei war und wir keine Einverständniserklärung von ihm inklusive Personalausweises dabeihatten.

Was soll das? Wir sind verheiratet, mein Mann ist der leibliche Vater. Wir wohnen, wie der Meldestelle bekannt ist, alle in einer Wohnung. Ich wollte keinen Pass für die minderjährige Tochter beantragen, um mit ihr eventuell ins Ausland abzuhauen, sondern sie nur für die Führerscheinprüfung anmelden. Als Begründung wurde mir gesagt: Da auch mein Mann die Kosten für den Führerschein trägt, muss das Amt sicher sein, dass er zustimmt. Warum ist man hier so streng? Ich kann ohne die Zustimmung meines Mannes ein Auto kaufen, eine Traumreise buchen und, und, und. Aber die Behörde muss ihn trotz Trauscheins vor möglichen Kosten in Höhe von rund tausend Euro schützen? Zum Schluss wurde mir noch erklärt: Wäre ich eine alleinerziehende Mutter, dann könnte ich auch ohne den Vater die Tochter anmelden. Dass ich wütend war, ist noch eine harmlose Beschreibung.“

Heinz Wacker, Althütte: Briefmarke digital

„Bei der Deutschen Post muss ab dem 1. März 2018 beim Kauf einer Briefmarke jede Briefmarke gescannt werden. Die Schlange am Schalter ist schön lang. Man freut sich, endlich Zeit zu haben für ein Gespräch mit anderen Postkunden. Ein solcher Schwachsinn kann nur jemand einfallen, der von der Arbeit vor Ort keine Ahnung hat. Das ist Bürokratie in höherem Sinn.“

Walter Hensinger, Aalen: Rechnen auf dem Amt

„Warum kann das Sozialamt bei der Berechnung der Sozialhilfe nicht gleich das Wohngeld berechnen? Stattdessen wird man auf eine Unterbehörde des Sozialamtes an einem anderen Ort verwiesen, das die gleichen Daten nochmals verarbeitet. Und warum wurde der Bewilligungszeitraum für Wohngeld von drei Jahren auf ein Jahr gekürzt? Das bedeutet viel Mehrfachaufwand – für Ämter und Betreuer!“

Henk de Lamper, Stuttgart: Deutscher werden

„Ich lebe zwar schon fast fünfzig Jahre in Deutschland, aber die bürokratischen Prozeduren bringen mich immer wieder zum Staunen. Als ich vor rund neun Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen wollte, bekam ich auf dem Amt für öffentliche Ordnung ein Formular, worauf die dafür nötigen Voraussetzungen aufgelistet waren. Unter anderem braucht man den Nachweis, dass man entweder einen deutschen Schulabschluss besitzt oder einen Sprachkurs in einem geeigneten Institut absolviert hat.

Bisher wurden meine deutschen Sprachkenntnisse noch nie infrage gestellt. Ich spreche akzentfrei Deutsch. Meine Frau, die daneben stand, meinte zu der Beamtin, die uns das Formular überreichte: ‚Sie hören doch, wie mein Mann Deutsch spricht. Er hat sogar ein Buch auf Deutsch veröffentlicht.‘ Für die Beamtin spielte das keine Rolle.

Mit der Sprachschule einigte ich mich, nur den Test zu absolvieren. Auf den Unterricht könne ich verzichten, hieß es dort. Bei der mündlichen Prüfung, in der ich zusammen mit einem Mitschüler virtuell ein Straßenfest organisieren sollte (Ich frage mich: Wie viele Muttersprachler würden das hinbekommen?), meinte die Prüferin: ‚Sie sprechen besser Deutsch als ich.‘ Dies festzustellen fällt offenbar nicht in den Zuständigkeitsbereich einer Beamtin des Amtes für öffentliche Ordnung.“