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Bürger und Politiker in Deutschland scheinen auf einer Reise in unterschiedliche Galaxien.

Berlin - Jetzt mal Hand aufs Herz: Nehmen wir an, es ist Sonntag, die Sonne scheint, und Sie sind mit der Familie bei einem entspannten Ausflug. Aber es ist dummerweise Wahltag, und um 18 Uhr schließen die Wahllokale. Was machen Sie? Beenden Sie den Ausflug, um noch rechtzeitig wählen zu gehen, oder ist es Ihnen dann doch nicht so wichtig, das Kreuzchen zu machen? Wer stellt denn solche blöden Fragen, kann man nun sagen. Die Allensbacher Meinungsforscher tun das regelmäßig. Mit erstaunlichen Ergebnissen. 1998 gaben noch 59 Prozent der Befragten an, den Ausflug umgehend zu beenden. 2009 sank der Wert auf 39 Prozent. Über ein Drittel der Bürger sagt inzwischen, es sei von allen Parteien enttäuscht, und 42 Prozent meinen, die Parteien machten doch sowieso, was sie wollen. Das ist es - dieses Gefühl: Ihr da oben, wir da unten. Und es scheint, dass es in diesen Wochen wieder besonders stark umgeht: die Debatte um Sarrazin. Die Politik will dem Mann doch gar nicht zuhören, will ihn lieber mundtot machen. So hört man es oft. Richtig oder falsch - aber so wird gedacht. Und Stuttgart 21: Da wird etwas, buchstäblich koste es, was es wolle, durchgedrückt. Auch das wird gesagt. Richtig oder falsch, aber dieses Gefühl geht um. Die da oben, wir da unten.

 

Es gibt Belege ohne Ende für die wachsende Kluft zwischen Volk und seinen Vertretern. Das Forsa-Institut fragt regelmäßig nach dem Vertrauen der Bürger in Institutionen, zuletzt im Januar. Von der Kirche bis zu den Versicherungen werden 34 Institutionen angeboten. Das größte Vertrauen genießt - die Polizei. Ärzte schneiden gut ab, der eigene Arbeitgeber übrigens auch. Im Übrigen gilt die Regel: Willst du die Politiker oben sehen, musst du die Tabelle drehen. Sogar Banken genießen trotz Finanzkrise größeres Vertrauen als politische Parteien. Schlechter schneiden nur Werbeagenturen und Manager ab.

 Ihr da oben, wir da unten

Oder: Nicht mal ein Drittel der Befragten sagten den Meinungsforschern vor der vergangenen Bundestagswahl, sie gingen gern zur Wahl und hätten dabei das Gefühl, über die nächste Regierung mitzuentscheiden. Oder: Die Wahlbeteiligung. Die ist im rasanten Sinkflug begriffen. Die Nichtwähler sind oft schon die stärkste "Partei". Obwohl es nicht so ganz klar ist, wie dieses Faktum zu bewerten ist. Es wächst auch die Zahl derjenigen, die einfach kein Interesse an Politik haben. Wahlenthaltung ist deshalb durchaus nicht immer Zeichen von Protest. Man kann bei der Wahl auch zu Hause bleiben und die politischen Dinge, so wie sie sind, im Allgemeinen ganz in Ordnung finden. Es ist keineswegs so, dass die Nichtwähler alle Aktivisten in Protestgruppen wären. Nicht mal jeder fünfte Nichtwähler ist abseits politischer Parteien ehrenamtlich aktiv, sei es in Vereinen, Bürgerinitiativen oder Kirchengemeinden.

Ihr da oben, wir da unten. Woran liegt es, dass die gefühlte Temperatur im Verhältnis von Bürger und Politik in Richtung Gefrierpunkt geht? Der Essener Parteienforscher Kar-Rudolf Korte sieht einen Zusammenhang mit dem sich etablierenden Fünf-Parteien-System. "Es gibt unklare Mehrheitsverhältnisse, und die Lager sind nicht mehr so übersichtlich getrennt", sagt er. Stimmt: In Hamburg koalieren die Grünen mit der Union, in NRW mit der SPD. "Es gibt das diffuse Gefühl, den Prozess der Regierungsbildung nicht mehr zu durchschauen", glaubt Korte. Das Ergebnis sei der Eindruck, die da oben machten doch ohnehin, was sie wollten.

Das ist wohl nur ein Teil einer komplizierteren Erklärung. Forsa-Chef Manfred Güllner weist auf die Sprache der Politiker hin. Da werde "beschönigt und verschleiert". Man spreche von "Menschen mit Migrationshintergrund", nicht von Ausländern. "Dabei kann doch niemand mit diesem sperrigen Begriff etwas anfangen." Am Vorwurf der Unverständlichkeit ist sicher etwas dran. Die Wahlprogramme der Parteien für die Bundestagswahl wimmelten von Wortungetümen wie "Public-Private-Partnership", "one-stop-shop" oder - damit es in Deutsch verständlicher wird - "Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft".

Wenige reden Klartext


Der Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth meint, die Politiker scheuten sich vor eindeutigen Aussagen. Deshalb strotzten ihre Reden von Versatzstücken wie "relativ", "sozusagen", "so etwas wie" oder das scheinbar unausrottbare "ein Stück weit". Wenige reden Klartext. Und die ecken an. Ex-Finanzminister Peer Steinbrück zog sich diplomatischen Ärger mit Schweizern und Liechtensteinern zu, weil er deren Finanzpraktiken kritisierte. Und der Berliner Klartexter Heinz Buschkowsky (SPD) sagt direkt: "Irgendjemandem tritt man immer auf den Sabberlatz." Ausnahmen im Meer der Sprachwolkenschieber.Natürlich gibt es noch mehr Erklärungen. Politik ist in der Sache komplizierter geworden. Zum Beispiel, weil vieles in Brüssel entschieden wird, und deren Bürokratie kann dschungelartig wuchern. Und wer vorgibt, das deutsche Gesundheitswesen in drei einfachen Sätzen erklären zu können, ist einfach ein Hochstapler.

Wolfgang Clement, der ausgetretene Sozialdemokrat, weist auf einen anderen, vielleicht wichtigeren Punkt hin. Er kritisiert die Praxis der Kandidatenkür der Bundestagsabgeordneten, "die in der Regel bei allen Parteien hinter verschlossenen Türen stattfindet, hinter die noch nicht einmal die Mehrzahl normaler Parteimitglieder zu blicken vermag". Diesen Vorgang nennt Clement "in seiner Abschottung, Intransparenz und Undurchschaubarkeit aus demokratischer Sicht absolut indiskutabel, nachgerade unwürdig".

Lieber auf die Bürger hören 

Aber zur Sprachlosigkeit gehören immer mindestens zwei. "Es gibt nicht nur eine Parteienverdrossenheit der Bürger", sagt Karl-Rudolf Korte, es gebe auch eine "Bürgerverdrossenheit der Politiker". Wenn sich Journalisten mit Politikern locker unterhalten, fällt immer wieder derselbe Satz: "In Deutschland kriegst du doch kaum ein Vorhaben mehr hin, weil sich irgendwo eine Bürgerinitiative gründet und alles kaputt macht." Nur schreiben darf man das nie. Das könnte nach Bürgerbeschimpfung klingen, derer sich ein Politiker nicht schuldig machen möchte. Der FDP-Politiker Hartfrid Wolff fasst das Problem immerhin in diplomatische Worte: "Es besteht eine Tendenz, dass das begrüßenswerte Bürger-Engagement sich immer mehr auf Einzelfragen fokussiert, die den Blick auf das Gemeinwesen als Ganzes einschränken."

Es ist ja nicht so, dass Politikern der Bürgerwille egal ist. Nur ist er mitunter schwer zu ermitteln. CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach berichtet aus seinem Politikeralltag: Er beantworte "Tausende Anfragen im Jahr". Dafür gehe mehr Arbeitskraft drauf als für Sitzungen. Bosbach erzählt ein Beispiel aus dieser Woche: "In einer E-Mail führt ein Bürger bittere Klage darüber, dass bei der Sicherung von Waffenschränken in Zukunft biometrische Daten verwendet würden. Der Mann ist Jäger und versieht sein Schreiben mit dem Hinweis, dass ich nicht wisse, wie der Bürger an der Basis über die Sache denke." Dann habe er einen neuen Brief geöffnet. Gleiches Thema, gegenteilige Meinung. Bosbach: "Diesmal kommt die Klage, warum die Politik dauernd vor der Waffenlobby einknicke. Man solle lieber auf die Bürger hören als auf die Lobbyisten in Berlin."

Volksbegehren - eine Bildungsveranstaltung 

Tatsächlich spielt sich die alltägliche Arbeit der Politiker keineswegs mehr hauptsächlich in den von Clement beschriebenen Hinterzimmern ab. Feldforschung ist angesagt. Bosbach sagt, dass bei ihm das Verhältnis von Parteiversammlungen zu besuchen auf Bürgerfesten und nicht parteipolitisch geprägten Ereignissen bei "eins zu zehn liegt". Dennoch wächst die Entfremdung. Neuerdings wird "mehr direkte Demokratie" als Heilmittel angepriesen. Das wird sich noch zu einer politischen Großdebatte auswachsen. Volksbegehren, Volksentscheide, ein Allheilmittel? Es gibt das klassische Gegenargument: Viele wichtigen Weichenstellungen in der Geschichte - Wiederbewaffnung, Westintegration, Nato-Doppelbeschluss - fielen gegen Augenblicksmehrheiten im Volk. Politik müsse Führung zeigen können. Das Thema hat Konjunktur. Allein 2009 weist der "Volksbegehrensbericht" 35 laufende Verfahren auf, elf davon wurden neu gestartet.

Lynn Gogolin ist die Pressesprecherin des Vereins Mehr Demokratie, der Speerspitze der Bewegung. Sie reagiert beim Wort "Augenblicksmehrheiten" ausgesprochen allergisch. Das sei ein "Kampfbegriff". Von der Unterschriftensammlung bis zum Volksentscheid, sagt sie, vergingen in einem mehrstufigen Verfahren zwei Jahre. In dieser Zeitspanne müssten die Initiatoren eine fundierte Debatte mit guten Argumenten anzetteln. Deshalb stehe am Ende keine Zufallsmehrheit. Im Gegenteil: Volksbegehren seien "eine große Bildungsveranstaltung". Und wer hat schon etwas gegen Bildung?