Das Flüchtlingsheim in Herne in der Nähe von Bochum Foto: StN

In Deutschland sind 2300 syrische Flüchtlinge mit bulgarischem Aufenthaltstitel registriert. Obwohl diese nur drei Monate bleiben dürfen, werden sie bislang nicht zurückgeschickt. Das lockt immer mehr Syrer an – dabei hängen sie in Deutschland nur in den Mühlen der Bürokratie fest.

Herne/Sofia - Im Gelobten Land sind die Betten und Schränke aus Metall. Die Wände haben braune Flecken, und um die Rohre am Abfluss sind bunte Lumpen gewickelt, weil sie undicht sind. Barzan Ramo aus Syrien sitzt in der Küche des Flüchtlingsheims in Herne in der Nähe von Bochum. Es gibt Salat, Huhn und gekochte Weizenkörner.

Barzan ist einer von Tausenden Flüchtlingen, die seit Jahresanfang von Bulgarien aus nach Deutschland gereist sind. Dort dürfen sie nur drei Monate bleiben, doch die meisten Flüchtlinge gehen davon aus, sie könnten in Deutschland ein neues Asylverfahren starten. Dass auch ein halbes Jahr nach der ersten Reisewelle kaum ein Flüchtling wieder zurück nach Bulgarien geschickt worden ist, macht ihnen Hoffnung, lockt immer mehr nach Deutschland oder Skandinavien, verstopft die bürokratischen Mühlen, lässt das Geschäft der Schlepper blühen – und auch Grenzpolizisten verdienen mit. Und doch ist es eine sinnlose Flucht ins Nichts, weil Menschen wie Barzan vom europäischen Asylrecht nicht vorgesehen sind.

Der 25-Jährige isst den Salat mit einem Löffel und erzählt davon, wie in Syrien ein Panzer von der Straße aus sein Nachbarhaus kaputt geschossen hat. Er erzählt von den Eltern, seinen fünf Geschwistern, die nach Istanbul geflohen sind. „Ich liebe sie so“, sagt er. Dann lässt er den Teller stehen. Er ist fast voll. Draußen stehen junge Männer in Jogginghosen. Es riecht nach Schweiß und Hasch. „Deutschland ist schön und organisiert, die Menschen sind sehr freundlich.“ Der Satz klingt wie einstudiert, und Barzan sagt ihn oft. Wenn ihn jemand fragt, ob er es bereut, von Bulgarien nach Deutschland gekommen zu sein, schweigt er.

Jan Shamo (19) lebt mit einem Bombensplitter in seiner Brust. Bei einer falschen Bewegung könnte der Splitter sein Herz zerstechen. Das haben die Ärzte in Bulgarien gesagt. Trotzdem hat sich Jan gegen eine Operation in der bulgarischen Hauptstadt Sofia entschieden, in die er im Oktober geflohen ist. „Ich habe eine Chance, dass ich die Operation überlebe“, sagt Jan. „Aber nicht in Bulgarien.“

Die Zahl der Menschen mit Flüchtlingsstatus ist um über 1200 Prozent gestiegen

Bulgarien gilt als ärmstes Land Europas. Die Arbeitslosenquote liegt bei fast 13 Prozent, und der Fremdenhass wächst. Vor einigen Wochen hat der bulgarische Ministerrat zwar einen nationalen Plan zur Integration von Flüchtlingen verabschiedet. Der Entwurf hat jedoch noch nicht das Parlament passiert – und am 23. Juli ist die Regierung zusammengebrochen. „Ohne finanzielle Unterstützung ist das Dokument natürlich nichts als eine Liste an guten Wünschen“, sagt ein Sprecher der Bulgarischen Flüchtlingsagentur. „Es ist unmöglich, die Finanzierung zu gestalten mit einer sich auflösenden Regierung.“ Integration hieße derzeit: „Verlasse das Flüchtlingslager, und sei ab jetzt Bulgare“, sagt Barzan.

Vor zwei Monaten hat Jan Shamo Bulgarien verlassen – jetzt ist er in Schweden. Barzan und Jan sind zwei von 2535 Flüchtlingen, denen Bulgarien seit Anfang des Jahres den Aufenthaltstitel gegeben hat, der sie innerhalb des Schengen-Raums reisen lässt. Im Vergleich zu 2013 ist die Anzahl der Menschen mit dem sogenannten Flüchtlingsstatus um mehr als 1200 Prozent gestiegen. Das deutsche Innenministerium hat im ersten Halbjahr 2014 2300 syrische Flüchtlinge mit bulgarischem Aufenthaltstitel gezählt.

Darauf, dass die Flüchtlinge mit dem Status ausreisen, kann sich die Regierung verlassen. „Das ist eine neue Art, um Flüchtlinge loszuwerden“, sagt Bernward Ostrop, Anwalt für Aufenthaltsrecht. „Bulgarien gibt unter anderem den Syrern möglichst schnell einen Flüchtlingsstatus, mit dem sie reisen können – somit beanspruchen sie keinen Schlafplatz und kein Geld mehr in Bulgarien.“ Auch Iliana Savova, Leiterin der Flüchtlingsabteilung der Menschenrechtsorganisation Helsinki Committee in Bulgarien, sieht darin eine mögliche Erklärung für das Hochschnellen der Zahlen. „Auch wenn das nie offiziell bestätigt worden ist.“ Dieses Instrument werde auch von Ländern wie Malta und Italien angewandt, sagt Ostrop.

Die Flüchtlinge werden an den Grenzen zur Kasse gebeten

Jan Shamos Krieg beginnt am 9. Oktober 2012. An dem Tag ist er mit seiner Tante, seinem Cousin und seiner Cousine in einem weißen Mazda-Kleinbus auf dem Weg von Aleppo nach A’zara. An den Flugzeugangriff erinnert Jan sich genau, an die Schreie der Menschen. Jan hat ein Video, das den zerstörten Bus nach dem Angriff zeigt, Blut auf dem weißen Lack, tote Menschen im Innenraum, eine klagende Männerstimme sagt ohne Unterlass „Gott ist groß“. Außer Jan und der sechsjährigen Cousine Yasmin hat den Angriff keiner der 14 Passagiere überlebt. Yasmin hat gesehen, wie ihre Mutter gestorben ist. „Nachts träume ich davon“, sagt Jan.

Im Sommer 2013 hat sich Jan entschieden, nach Deutschland zu fliehen. Er hat sich in der Türkei einem Schlepper anvertraut. 8000 Euro hat er dem Mann gezahlt, dass er ihn über die Grenzen bringt. Doch der Schlepper hat ihn nach Bulgarien gefahren und ist verschwunden, als die Polizei kam. „Das war ein Trick.“

Nach europäischem Recht aber ist jenes Land für den Asylantrag zuständig, in das ein Flüchtling zuerst einreist. Das trifft Bulgarien als Land an der EU-Außengrenze hart. 2013 haben über 11 000 Flüchtlinge die Grenze überquert. Bulgarien hatte aber nur Platz für 1200 Asylbewerber.

Barzan war neun Monate lang in unterschiedlichen Camps in Bulgarien. Am 19. Juni hat er einen Flüchtlingsstatus erhalten. Am 24. Juni ist er in einem Van zusammen mit acht weiteren Personen nach Deutschland aufgebrochen. Die Fahrt hat für jeden 160 Euro gekostet. Weil sie nur in Schengen-Länder reisen dürfen, haben sie einen Umweg gemacht. An der Grenze von Bulgarien nach Rumänien hätten die Polizisten 25 Euro von jedem verlangt, sagt Barzan. An der Grenze zu Ungarn weitere 50. Bei einer Polizeikontrolle in Ungarn wären fünf Euro fällig gewesen. Nach 37 Stunden Fahrt ist Barzan am 26. Juni in Dortmund angekommen. Nach Stationen in Hemer und Unna ist er nach Herne gebracht worden. In jedem Ort, durch den Barzan gefahren ist, hat er von der Schönheit der Häuser und der Landschaft geschwärmt. „Es gibt keine hässlichen Orte in Deutschland“, hat der Fahrer damals gesagt. Deutschland gilt bei den Flüchtlingen als das Gelobte Land.

Sie wissen, dass es in Deutschland eine stabile Wirtschaft gibt, dass die Regierung ein Kontingent von 20 000 syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen aufnehmen will.

Das aber betrifft die Flüchtlinge, die in Bulgarien bereits einen Aufenthaltstitel haben, nicht. Da sie in einem sogenannten sicheren Drittstaat Schutz gefunden haben, gelten für sie jedoch auch nicht die einheitlichen europäischen Dublin-Regelungen, die unter anderem auch klare Verfahren zur Rückführung von Flüchtlingen in die für sie zuständigen Länder vorsehen.

Juristen fordern Reform des europäischen Asylrechtes

Also geraten die Flüchtlinge im Gelobten Land in die bürokratischen Mühlen der überlasteten Behörden, an deren Ende in der Regel bestenfalls eine Duldung steht. Eine Duldung ist aber kein Aufenthaltstitel, sondern nur eine verschobene Abschiebung. Um die Flüchtlinge wieder nach Bulgarien bringen zu können, beruft sich das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge also auf nationale Gesetze – wie die sogenannte Drittstaatenregelung.

Für Aufenthaltsrechtler wie Ostrop ist das nicht mal eine geeignete Rechtsgrundlage: „Meines Erachtens sind die nationalen Gesetze durch die Dublin-Verordnung überholt“, sagt er. „Das Problem ist, dass wir es bei der zunehmenden Wanderung von Menschen mit ausländischen Titeln mit einem ganz neuen Phänomen zu tun haben, das in der Dublin-Verordnung gar nicht vorgesehen ist.“ Für die Behörden bedeutet das einen neuen Aufwand. „Selbst wenn ein Asylantrag unzulässig ist, muss er geprüft werden“, sagt Hubert Heinhold, Anwalt für Asylrecht. So lange haben die Flüchtlinge in Deutschland eine Aufenthaltsgestattung. Juristen fordern eine Reform des europäischen Asylrechts, die dem Trend Rechnung trägt: „Gekoppelt an einen Arbeitsvertrag müsste der Aufenthalt innerhalb des Schengen-Raums zulässig sein“, sagt Ostrop. Das Bundesamt sieht keinen Handlungsbedarf: Es lägen keine Hinweise darauf vor, dass einzelne EU-Staaten versuchten, „sich ihren europarechtlich vorgegebenen Pflichten im Zusammenhang mit der Durchführung von Asylverfahren systematisch zu entziehen“.

Das Dublin-Verfahren sei ein Förderprogramm für Schlepper und schaffe eine aufwendige Bürokratie, sagt Heinhold. „Es produziert ein Karussell, das durch mehrere Länder geht, und schafft letztendlich Illegalität und damit auch Kriminalität.“

Bulgarien entlastet jede bürokratische Warteschleife, die Flüchtlinge in Deutschland absitzen: „Im Moment sind die Lager nur zu 39 Prozent voll“, sagt ein Sprecher der Flüchtlingsagentur. Und für die Syrer in Bulgarien bedeutet es Hoffnung: Weil bisher kaum Flüchtlinge zurückgekommen sind, organisieren in den Lagern inzwischen auch jene 1603 Flüchtlinge mit dem sogenannten Humanitären Status die Reise nach Deutschland. Mit der Hilfe von Schleppern, da Reisen mit diesem Titel verboten sind.

Barzan sagt, er wisse, dass er kaum eine Chance habe, in Deutschland sein Chemiestudium zu beenden. Dann kauft er sich wie zum Trotz sein erstes deutsches uch. „Mein Dad und ich“ heißt es.