Die Region steht hinter dem Tübinger Schienenprojekt, signalisieren knapp zwei Dutzend Rathauschefinnen und -chefs. OB Palmer (rechts) appelliert auf dem Marktplatz an die Bürger. „Selbst wenn Sie die Bahn nicht nutzen, denken Sie solidarisch an die Pendler.“ Haas Foto: Horst

Soll die Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn gebaut werden oder nicht? Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer glaubt den Ausgang des Bürgerentscheids am Sonntag zu kennen und hat allen Grund daran zu zweifeln, dass es die Tübinger mit dem Klimaschutz ernst meinen.

Tübingen - Mit einem Infofahrrad macht Oberbürgermeister Boris Palmer höchstpersönlich Werbung für ein Schienenprojekt, das Tübingen seit Monaten spaltet: die geplante Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn Neckar-Alb. Als „Herzstück der Verkehrswende“ bezeichnet der Grünen-Politiker das Bauvorhaben und hofft, dass ein Bürgerentscheid am kommenden Sonntag grünes Licht für die Tübinger Teilstrecke signalisiert. Doch es könnte anders kommen. Die Kritiker wollen die „Stahl-Ungetüme“, wie sie die schicken Waggons nennen, unbedingt ausbremsen und machen mobil gegen die jahrelange Baustelle vor ihrer Haustür.

Zerschnitte Plakate und Verbalattacken

Viele Plakate der Befürworter wurden zerschnitten, es gab Verbalattacken, die sich mitunter ziemlich im Ton vergriffen haben. Über sieben Kilometer Schiene, die vom Bahnhof hinauf zu den Kliniken und weiter bis nach Waldhäuser-Ost führen sollen, wird in Tübingen zurzeit heftig gestritten, es hagelt Veranstaltungen und Protestaktionen.

Am Donnerstag hielten 20 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus den Landkreisen Reutlingen, Tübingen und Zollernalb auf dem Tübinger Marktplatz solidarisch ein Banner für die 280 Millionen Euro teure Innenstadtstrecke in die Höhe. „Tübingen, stimm für uns“ war darauf zu lesen. Denn auf den ersten Blick haben die Kommunen im Umland Tübingens ein bisschen mehr von der Bahn als die Unistadt selbst.

Vor allem Einpendler profitieren von der Schiene

Viele Pendler von außerhalb könnten eines Tages umsteigefrei zu ihren Arbeitsplätzen in die auf dem Berg gelegenen Kliniken oder Forschungszentren fahren. Die Tübinger Strecke ist nämlich nur ein Segment eines gigantischen Infrastrukturprojekts mit einem Volumen von rund zwei Milliarden Euro, das die Region zusammenwachsen lässt und dazu beiträgt, den stetig wachsenden Individualverkehr massiv zu reduzieren.

Das Netz der neuen Regionalstadtbahn verbindet die Region

Das neue Schienennetz, das von Bad Urach bis Herrenberg reicht, das Tübingen mit Albstadt auf der Schwäbischen Alb verbindet, hat eine Länge von 205 Kilometer. Längst ist mit der Elektrifizierung von Teilabschnitten begonnen worden, stillgelegte Strecken werden reaktiviert, viele Kilometer neu gebaut. In Reutlingen, wo ebenfalls eine Stadtbahn aufs Gleis gesetzt wird – ohne Bürgerentscheid – , schütteln viele den Kopf über die Verhinderer in der Nachbarstadt.

„Ist ausgerechnet die grüne Unistadt der Prellbock, an dem die Regionalstadtbahn aufläuft?“, fragt Boris Palmer und wundert sich, dass seine Argumente „weniger Staus, weniger Luftverschmutzung und weniger Unfälle“ nicht bei allen greifen. Er plädiert für den „Abschied von der autogerechten Stadt und dem Beginn der klimagerechten Stadt“ und ist sich sicher: „Wir kriegen die Pendler nicht von der Straße ohne die Innenstadtstrecke.“ Bequemer als in der Bahn ginge es nicht, egal ob mit Kinderwagen, Fahrrad oder Rollator.

BUND-Jugend: „Wichtigstes Einzelprojekt beim Klimaschutz“

Unterstützung erhält Palmer von Aktivisten der Bewegung Fridays for Future oder der Tübinger BUND-Jugend. Bei Straßenprojekten für den Autoverkehr werde die CO2-Last des Bauvorhabens doch lange nicht so intensiv diskutiert, mahnen sie an und sehen die Strecke „als wichtigstes Einzelprojekt beim Klimaschutz“ in der gesamten Region.

Die Gegner der Schiene haben sich gut organisiert, verteilen Flyer und bauen Infostände in der Altstadt auf. Als zu teuer, unnötig und unökologisch, weil die Gesamtklimabilanz schlechter sei als bei Bussen, erst recht bei E-Bussen, bezeichnet die Bürgerinitiative „Nein zur Innenstadtstrecke“ das Projekt. Sie warnt vor Schienen als Fahrradfallen und dem Engpass Mühlstraße, wo die Bahn womöglich Fußgänger verdrängen würde. Ein verbessertes Bussystem genüge, sagen sie und sehen die Belastung ungleich verteilt. Ihr Argument: „Wir wollen nicht, dass ganz Tübingen samt einigen Teilorten für den Komfort weniger Einpendler aus dem Umland aufkommen sollen, die vielleicht vom Auto auf die Straßenbahn wechseln.“

Ein Tunnel durch den Österberg könnte die Lösung sein

Seit geraumer Zeit dämmert es Boris Palmer, dass die Stadtbahn unter keinem guten Stern steht und die Kommune drei Jahre lang gebunden sein wird an das Votum der Tübinger. „Ich glaube nicht, dass es möglich ist, den Bürgerentscheid zu gewinnen“, sagt Palmer inzwischen, „da gibt es eine tiefsitzende, basale Ablehnung.“

Um zu retten, was womöglich nur noch für viele Millionen mehr zu retten ist, redet er neuerdings von einem Bahntunnel durch den Österberg, um das Nadelöhr Mühlstraße zu umgehen. Bei einer alternativen Streckenführung, so bezieht sich Palmer auf die Rechtsauffassung des Tübinger Regierungspräsidiums, sei man nicht an den Ausgang des Bürgerentscheids gebunden.