Für den Tübinger OB Palmer ist das Nein zur Stadtbahn eine herbe Niederlage. Foto: imago images/Eibn/er

Nach dem Bürgerentscheid gegen die Stadtbahn durch Tübingen will OB Boris Palmer nach vorne schauen. Die Bürgerinitiative gegen die Innenstadtstrecke hat sich aufgelöst und sucht den Anschluss an eine breite Allianz.

Tübingen - An Tag eins nach dem Aus für die Tübinger Stadtbahn gibt sich Boris Palmer abgebrüht. Ja, er habe bestens geschlafen, sagt der Oberbürgermeister. Und nein, er sei nicht enttäuscht über das Ergebnis des Bürgerentscheids. „Ich hatte es nicht anders erwartet“, das habe sich längst abgezeichnet.

Mehr Schienenfan als Boris Palmer geht kaum. Eine Bahn durch Tübingen hoch zu den Kliniken ist für den 49-jährigen Grünen-Politiker das erklärte Herzstück der Verkehrswende in der Unistadt. Auch der Gemeinderat und die Universität hatten sich hinter das Projekt gestellt, das nun mit einem klaren Nein, 57,39 Prozent stimmten gegen die Innenstadtstrecke, abgelehnt wurde. Die Wahlbeteiligung am Sonntag betrug 78,41 Prozent, damit wurde das Quorum von 20 Prozent der Stimmberechtigten deutlich überschritten.

Palmer: „Deutschland ist ein Autoland“

Warum die Tübinger so skeptisch sind gegenüber der Innenstadtstrecke, will Palmer genauer anschauen, er hat sich entschieden, dem Gemeinderat eine „fundierte wissenschaftliche Nachwahlbefragung“ vorzuschlagen. Der Oberbürgermeister hat bereits einige Hypothesen aufgestellt, woran es liegen könnte, dass Bürgerentscheide zu Stadtbahnen oft die Schiene ausbremsen. „Entscheide in Karlsruhe und Ulm gingen im ersten Anlauf gegen Stadtbahnprojekte aus“, so Palmer, in Aachen und Wiesbaden hätten rund zwei Drittel der Bürger gegen eine Bahn votiert.

„In Mittelstädten und kleinen Großstädten sind die Nutzer des Nahverkehrs eine Minderheit“, analysiert er, dort werde das Auto bevorzugt, von einer Bahn hätten viele keinen direkten Gewinn. „Deutschland ist ein Autoland“, sagt Palmer. „Wer sich für Alternativen zum Auto einsetzt, stößt bei einem Teil der Menschen, die von der Autoindustrie geprägt sind, auf Unverständnis.“ Zudem werde die mehrjährige Baustelle im Herzen der Stadt als große Belastung gesehen, nicht nur für die Autofahrer, auch für die Gewerbetreibenden und Anwohner.

Wenn Klimaschutz wehtue, dann breche oft Streit auf, sagt der OB

Bis 2030 soll Tübingen klimaneutral sein, so ehrgeizig sind nur wenige Städte. Ein Ziel, das ohne Bahn schwieriger zu erreichen sei, betont der OB und weiß, dass Streit ausbricht, „wenn Klimaschutz wehtut“. Es gebe zwar mittlerweile in allen Parteien außer der AfD einen Konsens, dass Klimaschutz ernster genommen wird. „Aber wenn Windräder oder Straßenbahnen gebaut werden, finden sich vor Ort viele Argumente, warum das doch anders besser gehen würde.“ In Tübingen komme hinzu, dass eine Einpendlerbahn gebaut werden sollte, von der vor allem Menschen aus der Region einen Vorteil zögen. Die Tübinger müssten „gegen ihre eigenen Interessen abstimmen“, „eine Entscheidung,die die Stadtgesellschaft überfordere“, so Palmer.

Die Regionalstadtbahn Neckar-Alb wackelt nicht

Das Gesamtkonzept der Regionalstadtbahn Neckar-Alb kommt wegen des Tübinger Nein nicht ins Wackeln. Die sieben Kilometer sind eine Teilstrecke eines großen Netzes, das drei Landkreise verbinden und gut zwei Milliarden Euro kosten wird. Der Geschäftsführer des Zweckverbands Regionalstadtbahn Neckar-Alb, Tobias Bernecker, spricht von einem Votum, das es zu respektieren gelte. „Wir hätten es uns anders gewünscht“, gibt er aber zu. Doch, egal ob mit oder ohne Innenstadtstrecke, werde Tübingen von dem 204-Kilometer-Netz der Regionalstadtbahn Neckar-Alb profitieren.

Die Finanzierung und die Fördergelder des Infrastrukturprojektes seien durch eine Ablehnung der Innenstadtstrecke nicht in Gefahr, versichert der Verbandsvorsitzende Eugen Höschele. Allerdings gebe es planerisch jetzt viel zu tun: „Wir benötigen ein funktionierendes Konzept für die Zukunft des öffentlichen Nahverkehrs in Tübingen.“ Dieses müsse zügig erstellt werden. Insbesondere die Verknüpfungen zwischen Bus und Schienenverkehr im Tübinger Bahnhof gelte es sorgfältig zu durchdenken. „Wir brauchen für 30 000 Fahrgäste täglich eine Umsteigelösung.“

BI-Sprecher Helle: „Tübingen muss jetzt neu denken“

Über den Ausgang des Bürgerentscheids hat sich Thomas Helle, der Sprecher der Bürgerinitiative gegen die Stadtbahn, gefreut. „Wir sind glücklich, Tübingen muss jetzt neu nachdenken.“ In vielen Gesprächen mit Bürgern habe es sich abgezeichnet, dass viele mit dem vorhandenen Bussystem zufrieden seien und dass sie ein schnelles Wachstum Tübingens, wie es der Oberbürgermeister anstrebt, ablehnten. „Das lässt sich steuern.“

Die Bürgerinitiative „Nein zur Innenstadtstrecke“ habe sich am Freitag aufgelöst, sagt Helle, „wir wollen uns neu konstituieren“. Es ginge darum, eine große Allianz zu formen und den Diskussionsprozess zu begleiten. Denkbar wären eine „Optimierung und Flexibilisierung des Busnetzes“ sowie die baldige Umstellung auf E-Mobilität. Auch die Option einer Stadtbahn, die „ums Zentrum herumführt“, sei vorstellbar, „aber bitte nicht durch die Mühlstraße“. Persönlich halte er viel von OB Palmer, sagt Helle, „er macht eine super Arbeitsplatzansiedlung“. Aber in der Debatte über die Bahn habe er extrem polarisiert. Bei einem ist sich Helle sicher. Das sei keine Anti-Palmer-Wahl gewesen, sondern eine Sachwahl.