Gegen das Vorhaben der Bahn, für Bauarbeiten die Strecke zwischen Waiblingen und Stuttgart mehrere Wochen lang komplett zu sperren, hat sich ein breites Bündnis formiert. Wer steckt dahinter, und was ist das realistische Ziel der Aktivisten?
Nach der überraschenden Ankündigung der Deutschen Bahn, wegen Bauarbeiten am digitalen Schienenknoten einzelne Teilstrecken über mehrere Wochen komplett sperren zu wollen, sind die Telefone und E-Mails unterschiedlicher Aktivisten heiß gelaufen. Das Ergebnis ist ein beeindruckender Aufmarsch Mitte April vor dem Hauptbahnhof in Stuttgart gewesen. Unter dem Motto „Wir lassen uns nicht abhängen“ demonstrierten mehrere hundert Menschen gegen die zu befürchtenden gravierenden Einschränkungen im Zugverkehr zwischen „Bad Cannstatt, Waiblingen und anderswo“. Doch der Frust des breiten Bündnisses, das zu einem Gutteil im Rems-Murr-Kreis initiiert worden ist, sitzt tiefer.
Vertrauen in die Bahn verloren
„Die Bahn ist ein tolles Transportmittel, das beste, das wir haben“, sagt Klaus Riedel. Seit Jahrzehnten macht sich der frühere Gymnasiallehrer und SPD-Lokalpolitiker leidenschaftlich für Verbesserungen im Schienenverkehr stark. Doch das Schlimme sei, dass er, wie viele andere auch, das Vertrauen in das Unternehmen Bahn mittlerweile verloren habe. Riedel spielt damit nicht nur auf das Projekt Stuttgart 21 an, das er von Anfang an für eine Fehlentscheidung gehalten hat, sondern vielmehr auf den Umgang mit den Kunden.
Der jüngste Anlass hat nun nicht nur ihn auf die Barrikaden getrieben: „Wie das jetzt im Hopplahopp-Verfahren durchgepeitscht werden soll, ist einfach ein Unding“, sagt Riedel. Denn dass die Bahn selbst von dem Umfang der Bauarbeiten überrascht worden sei, glaubt er nicht. Dennoch seien die Streckensperrungen quasi über Nacht verkündet und dann nach Salamitaktik-Art noch mal verschärft worden. So sei zunächst „nur“ von einer vierwöchigen Sperrzeit die Rede gewesen, nun aber sei zu befürchten, dass die Pendler am Ende fast drei Monate abgeschnitten sein werden.
Baumaßnahme schon lange geplant?
„Die Baumaßnahme ist bei der Bahn schon lange bekannt und geplant“, mutmaßt auch Steffen Eckstein, der im Bündnis den Kreisverband des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) vertritt. Schließlich wisse er durch seinen beruflichen Hintergrund als Elektromonteur bei den örtlichen Stadtwerken, dass die Zuleitungen zum Stellwerk in Waiblingen, dem hiesigen Herzstück des digitalen Knotens, schon lange vorbereitet seien.
Es hätte durchaus Alternativen zu der Vollsperrung gegeben, sagt Ulli Fetzer, Waiblinger Diplom-Ingenieur im Ruhestand und Betreiber des Internet-Informationsportals s-bahn-chaos.de, auf dem er und seine Mitstreiter unter anderem monatliche Pünktlichkeitsstatistiken im Schienenverkehr veröffentlichen. Nachtarbeiten und ein Aufrechterhalten der Strecke zumindest während der Hauptverkehrszeiten wäre möglich gewesen, behauptet er.
Allerdings wäre die Rechnung dafür deutlich höher ausgefallen. Und: Das zuletzt ausgegebene Ziel, Stuttgart 21 wenigstens im Jahr 2025 aufs Gleis zu hieven, wäre wohl in eine noch unrealistischere Ferne gerückt, ergänzt der Schorndorfer Ernst Delle, der ebenfalls Gymnasiallehrer in Rente und Mitglied bei „Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene“ ist.
Das alles hätte man als Argumente für eine Abwägung durchaus in die Diskussion einbringen können, sagen die Kritiker. Doch weil nicht offen und rechtzeitig kommuniziert worden sei, habe eine solche leider gar nicht stattfinden können.
Sperrung nicht mehr abwendbar
Dass man die Bahn jetzt noch von dem Plan der Streckensperrung wird abbringen können, glaubt wohl keiner. So realistisch sieht das – wenn auch breite – Bündnis seine Möglichkeiten der Einflussnahme durchaus. Gleichwohl sieht man sich bemüßigt, insbesondere die Bahnpendler darauf aufmerksam zu machen, was ihnen vom 12. Mai an blühen werde. „Der große Aufschrei wird allerdings wohl erst dann kommen, wenn es so weit ist“, befürchtet Steffen Eckstein.
Was bleibt den Widerständlern dann noch? „Die Sache weiter kritisch begleiten, mit den Leuten reden, mitfahren, beobachten, melden“, sagt Eberhard, Ebbe Kögel, Stuttgart-21-Gegner von Anbeginn an. Warum? „Wir sind so eine Art Pilotprojekt vielleicht sogar für ein bundesweites Vorgehen der Bahn“, glaubt Ernst Delle, „vielleicht aber denkt sie bei künftigen Anlässen ja noch mal drüber nach, wenn nicht alle ihren Ärger einfach runterschlucken.“ Bad Cannstatt/Stuttgart sei schließlich nicht die einzige angedachte Sperrung.
Aber es wird doch ein aufwendiger Ersatzverkehr mit Bussen eingerichtet? „Ich wünsche für die vielen Pendler, dass es funktioniert – allein mir fehlt der Glaube“, sagt Klaus Riedel. Ganz abgesehen davon, dass vermutlich an anderer Stelle dafür ausgedünnt worden sei – denn wo sollen denn die vielen Busfahrer und Fahrzeuge dafür herkommen?
Dilemma der Bahnbefürworter
Am kommenden Dienstag will die Initiative beraten, wie sie konkret weitermachen will. Grundsätzlich stecke man ja selbst in einem Dilemma, sagt Klaus Riedel: „Wir sind alle Befürworter der Bahn und müssen dennoch immer wieder auf sie eindreschen.“ Doch damit wird er wohl weitermachen: „Mir liegt sehr viel an einem gut funktionierenden Bahnverkehr, und dafür setze ich mich ein – auch wenn ich das leider nicht mehr erleben werde.“
Bauarbeiten für den digitalen Knoten
Hintergrund
Im Rahmen des Projekts Stuttgart 21 soll die Region zum ersten digitalisierten Knoten in Deutschland ausgebaut werden. Dafür wird entlang der Strecken das digitale Zugsicherungssystem ETCS verlegt, nach Angaben der Deutschen Bahn müssen dafür unter der Erde Tausende Kilometer neue Kabel verlegt werden.
Sperrungen
Die Bahn hatte Mitte März bekannt gegeben, dass einzelne Verbindungen im Großraum Stuttgart dafür mehrere Wochen lang unterbrochen werden müssen. Vom 12. Mai an trifft es den Bereich Bad Cannstatt/Waiblingen. Im zweiten Halbjahr sollen dann Strecken im Bereich Vaihingen/Flughafen/Böblingen gesperrt werden.
Ersatzverkehr
Die Arbeiten auf der Strecke zwischen Bad Cannstatt und Waiblingen sollen bis zum 29. Juli andauern. Für den ersten Bauabschnitt bis 9. Juni liegt ein Konzept für den Ersatzverkehr vor. Busse, die im Fünf-Minuten-Takt pendeln, sollen das Chaos verhindern, auch die Stuttgarter Straßenbahnen ändern ihr Linienkonzept.