Es muss keine Pandemie sein, die den Mob mobilisiert – ein virales Video könnte reichen. Foto: imago images/Achille Abboud/Achille Abboud via www.imago-images.de

Schluss mit lustig: Der Bestseller-Autor Marc-Uwe Kling legt mit „Views“ seinen ersten Thriller vor – und der hat es in sich.

Jede von Migranten oder Asylbewerbern verübte Straftat leitet willkommenes Wasser auf die Mühlen, mit denen die, die von Willkommenskultur nichts halten, ihre Propagandamaschinerie antreiben. Wobei dieses mechanistische Bild hoffnungslos veraltet wirkt, angesichts der Kanäle, die ihnen die digitale Infrastruktur zur Erregungsverstärkung zur Verfügung stellt. Man stelle sich nun vor, was passieren würde, wenn in diesen Netzwerken das brutale Video der Gruppenvergewaltigung einer weißen Teenagerin durch drei offenbar angetrunkene Schwarze zirkulieren würde.

 

Marc-Uwe Kling Foto: dpa/Annette Riedl

Das bisher in lichteren Zonen der Literatur operierende Multitalent Marc-Uwe Kling spielt das durch, und das Szenario bringt einen harten Genrewechsel mit sich. Berühmt wurde der Wahl-Berliner mit seinen „Känguru-Chroniken“. Darin arbeitet sich ein sprechendes kommunistisches Kreuzberger Beuteltier als Alter Ego des Autors auf intelligente und vor allem sehr komische Weise an den Widersprüchen der profitgetriebenen Gesellschaft ab, in die es allerdings selbst einigermaßen verstrickt ist. Nun aber ist Schluss mit lustig. Auf Comics, Kinderbücher, „Neinhörner“ folgt ein kompromissloser Thriller: „Views“.

Welle der Empörung

Ein Hinweis auf dem Cover warnt vor sensiblen Inhalten, die manche Personen als verstörend empfinden könnten. Was sich natürlich auch als geschickt gesetztes Lockmittel verstehen lässt. Denn was die einen als Zumutung empfinden, übt auf andere eine umso größere Anziehungskraft aus. Womit man schon mitten in der Geschichte wäre.

Jenes sich im Netz viral verbreitende Video platzt zu Beginn in das nicht allzuviel versprechende Date zwischen der Hauptkommissarin Yasira Saad und einem etwas einfältigen Journalisten. Beiden ist klar, welcher Sprengstoff darin enthalten ist. Sogleich stürzen sich die Aasgeier des Boulevards auf den Fall, eine ungeheure Welle der Empörung schaukelt sich mit immer extremeren Wortmeldungen auf: „Irgendetwas gerät aus den Fugen. Man spürt es förmlich in der Luft.“

Kling hat ein feines Gespür für das, was in der Luft liegt. Er denkt weiter, was ihm aktuelle Stimmungslagen zuspielen. Schon bald tauchen weitere Videos auf, in denen ein „Aktiver Heimatschutz“ zu einem Rachefeldzug aufruft: „Der Staat versagt. Die Polizei wurde von Grünen und Linken kastriert. Es ist unser Recht, uns zur Wehr zu setzen.“

Selbstjustiz von Heimatschützern

Die aus einer libanesischen Flüchtlingsfamilie stammende, in Wilmersdorf geborene Kommissarin, alleinerziehende Mutter einer Tochter im Alter des Vergewaltigungsopfers, wird mit der Aufklärung betraut. Sie ahnt, was diese Entwicklung für Leute wie sie bedeutet, und irgendwann gerät sie selbst ins Visier eines aufgewiegelten Mobs, der am Ende nur noch mit Wasserwerfern vom Schlimmsten zurückzuhalten ist.

Man kennt dergleichen Bilder, soweit so wahrscheinlich. Aber natürlich begnügt sich ein guter Thriller nicht mit Wahrscheinlichkeit, so wenig wie eine gute Kommissarin. „,Wahrscheinlich‘ gehört nicht zu Yasiras Lieblingswörtern. Gerne würde sie mal von irgendwem ein ,definitiv‘ hören.“ Von dem vier Tage vor Auftauchen des Schreckensvideos spurlos verschwundenen Mädchen fehlt jede Spur. Dafür bleiben die Ankündigungen der Aktiven Heimatschützer nicht ohne Folgen. Ihre Abkürzung lautet AH – kein Schelm, wer Böses dabei denkt.

An dieser Stelle sollte man die Ermittlungen dem BKA überlassen, um den Thriller-Erfolg nicht zu gefährden. Stattdessen könnte man sich das schillernde Adverb „wahrscheinlich“ einmal genauer ansehen, in dem sich Wahres und Scheinbares paaren. Denn wo das eine vom anderen ununterscheidbar wird, liegt das hochempfindliche Nervenzentrum des Romans – mit allen sozialpsychologischen Folgen.

Schwurbler und Verschwörungstheorien

Kling begnügt sich nicht damit, die Eskalationsspiralen auszuschlachten und mit den Anklängen realer Ereignisse zu beglaubigen, sondern fragt, wer ein Interesse daran haben könnte. Die Suche nach ungreifbaren Mächten, die im Verborgenen die Strippen ziehen, ist natürlich der heikle Punkt, an dem der investigative Impuls kriminalistischer Belletristik droht, sich dem verschwörungstheoretischen Narrativ anzugleichen, bis auch hier Schein und Sein zusammenfallen. Yasiras Kollegin ist das wohl bewusst: „Cui bono?“, fragt sie auf entsprechende Überlegungen ihrer Chefin, „wer profitiert? Ehrlich? Dir ist schon klar, dass Schwurbler mit genau dieser Frage ihre Opfer in den Sumpf der Verschwörungstheorien locken?“

Der kluge Coup dieses Romans aber, der ihn über eine bloße Genreübung vor aktuellem Hintergrund hinaushebt, besteht darin, dass er seine Beweisführung nicht nur auf trügerische Evidenzen stützt, sondern auf die Bereitschaft des Lesers, sich in diese Geschichte hineinziehen zu lassen, trotz oder eben gerade wegen der vorausgeschickten Triggerwarnungen. Wo Wahrheit und Schein ununterscheidbar geworden sind, können nur noch Wut, Hass und Empörung ein Echtheitszertifikat beanspruchen. Im Medium der Spannungsliteratur werden die Affekte entfesselt. Doch anders als die Profiteure viraler Hirnvernebelungsagenturen, die die dunklen Wolken über den Köpfen der Gesellschaft mit Skandalen impfen, um sie in Shitstorms, Hass und Hetze abregnen zu lassen, stellt Kling sein Erregungskalkül in den Dienst der Aufklärung.

Handlung aus der Kombination von Realien wie dem Sturm auf den Reichstag zu generieren, lässt an eine KI denken. Aus Gründen, die sich nur den Lesenden erschließen, liegt darin paradoxerweise eine besondere Qualität. Doch steht KI hier vor allem für kommerzielle Interessen. Mit Views lassen sich Werbeeinnahmen generieren.

Diese neue Zündstufe des Plattform-Kapitalismus ist genau die Welt, vor der uns jenes Känguru schon immer gewarnt hat. Der digitalen Währung der Views entspricht im literarischen Feld die Bestsellerquote. Dem Roman ist sie gewiss. Man kann ihm nicht genug Leser wünschen. Wenn seine kapitalismuskritische Aufklärungsarbeit den Nebeneffekt hat, den Autor reicher zu machen, ist das etwas, was er am besten mit dem klugen Beuteltier bespricht.

Marc-Uwe Kling: Views. Ullstein Verlag. 272 Seiten, 19,99 Euro.

Info

Autor
Marc-Uwe Kling wurde 1982 in Stuttgart geboren. Nach dem Abitur ist er nach Berlin gezogen, wo er bis heute in Kreuzberg lebt. Zweimal hat er das Studium der Philosophie begonnen, zweimal abgebrochen. Dafür wurde er zweimaliger Deutscher Poetry-Slam-Meister. Außerdem: Schriftsteller, Comicautor, Regisseur und Vater zweier Töchter, mit denen er den Fantasy-Krimi „Der Spurenfinder“ geschrieben hat.

Werk
 Berühmt wurde Kling mit den „Känguru“-Chroniken. Die vier Bände und die Hörbücher verkauften sich millionenfach und wurden verfilmt. Zu Klings weiteren Werken zählen Romane wie „Qualityland“, mehrere Kinderbücher und Spiele. „Views“ ist sein erster Thriller.