Interesse an Randgebieten: Kai Wieland und sein zweiter Roman „Zeit der Wildschweine“. In unserer Bildergalerie finden Sie weitere interessante Neuerscheinungen. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko/Verlag

Auf der Suche nach der verlorenen Exzentrik: Der in Backnang geborene Autor Kai Wieland reist in seinem neuen Roman aus der schwäbischen Provinz an französische Unorte.

Stuttgart - Die Frage ist doch, was liegt dahinter? Hinter der Stadt liegt die Provinz, hinter dem Alltag liegen die Träume, hinter den Idolen die Illusionen, hinter der Jugend die Ratlosigkeit, hinter dem Dorf der Wald. Und im Wald leben die Wildschweine. Damit wäre man schon mitten in der Welt angekommen, die der junge Autor Kai Wieland für sein Schreiben kultiviert. Die Früchte, die hier gedeihen sind nicht süß und verführerisch. Sie haben eher eine raue Schale und lassen sich nicht leicht knacken. Aber es lohnt sich auf jeden Fall, sich an ihnen abzuarbeiten. Denn hinter der harten Hülle steckt ein substanzieller Kern.

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Mit der eigenwilligen Anverwandlung schwäbischer Hinterwelten in seinem Debüt „Amerika“ wurde der 1989 in Backnang geborene Autor bekannt. Nun folgt sein zweiter Roman „Zeit der Wildschweine“. Und er wagt sich noch einen Schritt tiefer in das Gestrüpp eines Erzählens, dessen Wildwuchs noch von keiner der einschlägigen Baumschulen des Literaturbetriebs zurückgeschnitten und vereinheitlicht wurde.

In „Zeit der Wildschweine“ verschränken sich zwei gegenläufige Erzählstränge. Der eine führt den Ich-Erzähler Leon, einen in die Ungewissheit seiner Lebenspläne geschleuderten Reiseschriftsteller, zurück in das Haus seiner Kindheit, das für seinen alten Vater zu groß geworden ist. Der andere erzählt von dem Auftrag, einen Führer über Orte zu schreiben, die aus der Zeit gefallen sind, an denen niemand mehr sein will, Lost places in den ehemaligen Kohlerevieren Nordfrankreichs.

Abenteuerspielplätze für Erwachsene

Zwischen Herkunft und Aufbruch sucht Leon seinen Weg, begleitet von dem Fotografen Janko, mit dem ihn außer der Leidenschaft für den Boxsport und der Prägung durch die gleichen Filme das Interesse an Randfiguren und Exzentrizitäten aller Art verbindet. Beide haben ihre Idole, der Fotograf Janko den legendären Kriegsberichterstatter des Spanischen Bürgerkriegs, Robert Carpa, der Reisereporter Leon den Schriftsteller Ernest Hemingway, dessen abenteuerliches Leben für ihn kompensiert, dass die Straßen des Schwabenlands kein oft besungener Mythos umweht: „Auf schwäbischen Straßen wird im Allgemeinen einfach bloß gefahren.“

Auf ihrem Weg durch Nordfrankreich geraten sie in die Dreharbeiten von Christopher Nolans Film „Dunkirk“ und je tiefer sie sich in den Kulissen ihrer Vorstellungen verlieren, desto unübersichtlicher werden die Grenzverläufe zwischen Erfindung und Wirklichkeit. Die expressive Zivilisationsbrache schillert wie die Bilder Robert Carpas zwischen Machination und Authentizität: Sind die expressiven Unorte Abenteuerspielplätze für Urban Explorer oder am Ende gar ein großes Kunstprojekt? Leons Reiseführer „Lost Places in Nordfrankreich“ steht Jankos Fotoreportage „Die Geister von Calais“ gegenüber. Aus dem Zweikampf zweier Rivalen, die sich beim Boxen kennengelernt haben, wird ein Kampf um die Deutungshoheit der Welt.

Saugänge in Maisfeldern

Nicht minder doppelbödig erweisen sich die Verhältnisse zuhause: Die Mutter hat sich wohl umgebracht. Der Vater, der müde König, verlässt sein Reich. Er hatte bisher das Meinungsmonopol auf die Heimat beansprucht, sein Sohn jenes auf die Welt. Diese Gebietsaufteilung wird unklar, ein merkwürdiger Nachbar hält die Stellung, verteidigt als Jäger die Ordnung gegen die Wildschweine. Irgendwann brennt ein Zaun. Wie sich diese Elemente metaphorisch auf die Coming-of Age-Geschichte verteilen, verliert sich im Ungewissen wie Saugänge in Maisfeldern.

Die ungebändigte und rätselhafte Poesie des Ganzen überwuchert die Blöße mancher Einzelheiten: wenn sich die Lippen eines kauenden Mundes „akrobatisch kräuseln“, jemand „postperplex“ mit dem Zeigefinger gen Westen weist oder auf die Frage, wie er heiße, steif wie in einem höfischen Roman antwortet „Leon ist mein Name.“ Manch terminologisches Ungetüm lauert im Unterholz dieses literarischen Bannwalds. Aber man kann nicht gleichzeitig das Wilde fordern und das Ebenmäßige einklagen. Manchmal führen Holzwege eher zum Ziel als die breiten und bequemen Trassen. Soviel lässt sich aus Leons Geschichte lernen.

Kai Wieland: Zeit der Wildschweine. Roman. Klett-Cotta-Verlag. 271 Seiten, 20 Euro.

Termin: Am 22. Juli, um 19.30 Uhr, stellt Kai Wieland seinen Roman in der Stadtbücherei Stuttgart vor. Einlass nur mit bestätigter Reservierung, Telefon: 0711-21696527, E-Mail: karten.stadtbibliothek@stuttgart.de.