Das „Bettsoicherl“ bringt eine Erinnerung der schwäbischen Bauerin an ihr früheres Leben zurück.Foto: Kathrin Feldhaus Foto:  

Zwei Autorinnen haben sich im Auftrag der Veronika-Stiftung in die Welt von Demenzkranken begeben. In ihrem Buch zeigen sie auf künstlerische Art, was am Ende des Lebens bleibt.

Stuttgart - Sie stellt sich ihren Besuchern als schwäbische Bäuerin vor. Der Beruf, den Frau Wunderle so lange ausübte, prägt sie trotz ihrer Demenz immer noch. Es zieht sie raus in die Natur, in den Garten des Seniorenheims. Dort fällt ihr sofort auf, dass die Wiese voller Löwenzahn – oder wie sie sagt: „Bettsoicherl“ – ist. „Das Gras muss man wegmähen“, findet sie. Eine Spinne zerquetscht sie einfach zwischen den Fingern.

Es sind Szenen wie diese, die die beiden Autorinnen Margarethe Mehring-Fuchs und Kathrin Feldhaus für ihr Buch „Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort“ gesammelt haben. Sie haben sich dafür ein Jahr lang mit Demenzkranken aus drei verschiedenen Einrichtungen getroffen. Entstanden ist kein Ratgeber für die Krankheit Demenz, sagen die Autorinnen, denn das gebe es schon zur Genüge. „Unsere Herangehensweise war eine künstlerische“, erklärt Feldhaus, „wir wollten die Jetzt-Welt der Demenzkranken zeigen. Wir wollten ihnen eine Stimme geben.“ Die Autorinnen waren überrascht, dass die Kommunikation funktioniert hat – auf die eine oder andere Weise. „Selbst eine Frau, die gar nicht mehr sprechen konnte, hat mit einem Lächeln reagiert, immer wenn man sie berührt hat“, erinnert sich Mehring-Fuchs.

Die Autorinnen sahen es als Vorteil, dass sie ihre Gesprächspartner erst als Demenzkranke kennengelernt haben. „Für die Angehörigen steht oft der Verlust im Vordergrund. Wir konnten die Menschen jedoch so nehmen, wie sie jetzt sind“, erklärt Feldhaus. Stück für Stück haben sie so die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Heimbewohner zu Tage gefördert. Bei manchen ist – wie bei Frau Wunderle – der frühere Beruf noch im Bewusstsein verankert. Bei anderen sind es die Erinnerungen an die Kindheit, eine Leidenschaft oder auch einfach nur ein Gefühl. Die Lebenswelt dieser Menschen haben die Autorinnen nicht nur in ihrem Buch dargestellt, sondern auch in der beigefügten Audio-CD „Bruchstücke“. Darin hat der Poetry-Slam-Künstler Tobias Gralke die Gesprächsfragmente der an Demenz Erkrankten zu neuen Stücken zusammengesetzt, die wie Gedichte wirken. „Die junge Stimme von Tobias Gralke schlägt eine Brücke zwischen den Generationen“, sagt Mehring-Fuchs. Durch die Audio-CD wird auch deutlich, welch wichtige Rolle Musik im Leben der Erkrankten spielt. „Das ist eine Generation, die noch mit Volksliedern groß geworden ist“, sagt Feldhaus. Auf der CD ist zu hören, wie die Alten mit Begeisterung singen. „Da fragt man sich, ob unsere Generation im hohen Alter die Wischbewegung, die man für Smartphones verwendet, nachahmt“, scherzt Feldhaus. Humor war für das Projekt in den Seniorenheimen ohnehin nötig. „Wir hatten viele schöne Momente, in denen wir miteinander gelacht haben“, sagt Mehring-Fuchs.

Das Buch spendet keinen Trost

Spendet das Buch also Angehörigen oder Betroffenen Trost? „Nein“, sagen die Autorinnen gleichzeitig. Denn das Buch zeige auch schonungslos, was die Krankheit mit den Menschen macht und wie schwierig es für die Mitmenschen ist, damit umzugehen. „Es ist beispielsweise bestimmt nicht leicht für Angehörige zu lesen, dass sich der Großvater im Altenheim eingesperrt fühlt“, sagt Feldhaus nachdenklich. Doch es sei eben darum gegangen, die Empfindungen der Betroffenen darzustellen, ob sie nun der Realität entsprechen oder nicht. „In der Realität des Betroffenen sind sie nämlich wahr“, sagt Feldhaus.

Auch das Empfinden der Autorinnen im Umgang mit den Demenzkranken wird im Buch geschildert. „Eigentlich wollten wir uns selbst zurück nehmen. Doch während des Projekts haben wir gemerkt, dass das nicht funktioniert“, sagt Mehring-Fuchs. Denn die Dementen reagierten auch auf die beiden Interviewerinnen, sie stellten Gegenfragen und entlarvten sie teilweise auch mit ihrer entwaffnenden Ehrlichkeit. So reagierte Frau Böhm beispielsweise ungehalten, als die Autorinnen ein Experiment mit ihr wagen wollten. Die frühere Mitarbeiterin eines Standesamtes sollte etwas auf einem Stenoblock schreiben. „Unser Experiment hat sie aber durchschaut und fragte uns, warum sie die kurze Zeit, die sie noch hat, mit so einem Kruscht verbringen soll“, sagt Feldhaus und lacht. Sie spricht bewundernd von der alten Frau, die trotz ihrer Gedächtnislücken immer noch ihre Meinung vertreten und ihren Unwillen äußern kann: „Diese Menschen haben auch uns immer wieder den Spiegel vorgehalten.“ Die beiden Autorinnen schlüpften für ihre Gesprächspartner in die unterschiedlichsten Rollen: Mal wurden sie als Enkelin, mal als Großmutter wahrgenommen. Mal wurden sie mit Komplimenten überhäuft, dann wieder beschimpft. Manche der Gesprächspartner – wie zum Beispiel die schwäbische Bäuerin Frau Wunderle – sind inzwischen gestorben. Einige der Gedanken, die ihr am Ende des Lebens durch den Kopf gingen, sind durch das Buch erhalten geblieben. Der Umgang mit den alten Menschen auf Augenhöhe hat sich gelohnt: Das Buch öffnet die Tür zu einer anderen, spannenden Lebenswelt.