Die Aussteller sind zurück, aber sonst ist nichts mehr wie zuvor. Die Frankfurter Buchmesse ist nicht nur ein Umschlagplatz für Bücher, sondern für etwas, auf dass es gerade mehr denn je ankommt: die Fähigkeit, sich im anderen zu wiederzuerkennen. So sieht es unser Literaturexperte Stefan Kister.
Endlich könnte in Frankfurt alles wieder so sein wie früher: eine Buchmesse, wie man sie kennt, international, bunt, kommunikativ. Bei der Eröffnungsfeier wurden wieder die rhetorischen Stafetten von Zelebrität zu Zelebrität weitergereicht, die die Botschaft von Meinungsfreiheit, Gemeinsinn und Solidarität beschwören. Aber man schließe einmal inmitten des anhebenden Trubels für einen Moment die Augen und stelle sich vor, ein Raketentreffer hätte die Fassade des Messeturms aufgerissen, Trümmerteile wären auf den vorbeifließenden Verkehr gestürzt und hätten mehrere Autos unter sich begraben. Dutzende Tote, viele Verletzte.
Das ist es, was die Bewohner des flächenmäßig zweitgrößten europäischen Landes in ihren Städten erleben, weil sie es gewagt haben, für jene Grundprinzipien einzutreten, aus denen die Frankfurter Sonntagspredigten gemacht sind. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird an diesem Donnerstag das Messepublikum daran erinnern. Das ist es, wovon die Autorinnen und Autoren der Ukraine erzählen, wenn sie überhaupt dazu kommen, weil sie stattdessen wie Serhij Zhadan, der am Sonntag in der Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennimmt, für die Verteidigung ihres Landes eintreten.
Wie eine Weltmacht zum Schurkenstaat wird
Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Nichts ist mehr wie früher. Daran ändert die Rückkehr der Aussteller nichts. Die Branche ist angeschlagen. Konsumangst, Inflation und Kostensprünge im Verbund mit der notorischen Papierknappheit drücken die Stimmung. Auch das eine der Folgen des russischen Angriffs. Und auch hier wäre es an der Zeit für einen ordentlichen Wumms.
Viel steht auf dem Spiel. Das in der eigenen Sprache gedruckte Wort und die internationale Wahrnehmung der eigenen Kultur als Grundfeste von Unabhängigkeit und Freiheit – es ist dies, was die Menschen in der Ukraine gegen einen übermächtigen Angreifer standhalten lässt. Wer wissen will, wie sich eine Weltmacht in einen Schurkenstaat verwandeln konnte, findet in den Büchern russischer Autoren, die in ihrer Heimat zur Fahndung ausgeschrieben sind, Antworten. Einer von ihnen ist Dmitri Glukhowski, auf der Buchmesse findet er Asyl. Seine visionären Romane spielen in der Moskauer Metro nach einem Atomschlag oder in einem von der Welt isolierten Russland, dass sich nunmehr Imperium nennt.
Vielleicht war nie zuvor die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit so durchlässig. Das gilt für die Pest der Desinformation, die es vermag, aus ganzen Ländern in sich abgeschlossene Parallelwelten aus schamlosen Lügen und Erfindungen zu machen. Es gilt für den Übertritt von Fachtermini aus dem Segment literarischen Katastrophengrusels ins Reich der Realpolitik, wenn sich Begriffe wie Armageddon oder Apokalypse plötzlich in höchst konkreten Lagebeschreibungen wiederfinden. Und es gilt für die bestimmende Schreibweise der Stunde, in der sich Biografie und Literatur verbünden, deren Wegbereiterin Annie Ernaux gerade mit dem Nobelpreis gewürdigt wurde.
Geht es in der Literatur um uns selbst, geht es immer auch um andere und umgekehrt. Das haben die wahren Fiktionen den falschen voraus. Und es ist das, was eine Buchmesse und das auf ihr gehandelte Gut kälter werdenden Zeiten entgegenzusetzen haben: die Fähigkeit, im anderen sich selbst zu erkennen – ganz gleich, ob der Blick nun in die Ukraine geht, den Iran oder vor die eigene Haustüre, wo die Leute zwar noch nicht von Trümmerteilen erschlagen werden, aber um den eigenen sozialen Absturz bangen müssen.