Historiker Thomas Großbölting (im Bild mit Stadtarchivarin Natascha Richter, Oberbürgermeisterin Ursula Keck und Museumsleiterin Irmgard Sedler, von links), hat sein Buch vorgestellt. Foto: Susanne Mathes

Der Historiker Thomas Großbölting präsentiert sein Buch über die NS-Zeit in Kornwestheim. Eine zentrale Rolle darin spielt der damalige Bürgermeister Alfred Kercher, der auch nach 1945 wieder im Amt war.

Kornwestheim - Knapp vier Jahre, nachdem die Stadt 100 000 Euro für die Erforschung ihrer NS-Geschichte lockermachte und dem Münsteraner Historiker Thomas Großbölting den Zuschlag gab, hat der Kohlhammer-Verlag dessen knapp 200 Seiten zählende Studie „Volksgemeinschaft in der Kleinstadt. Kornwestheim und der Nationalsozialismus“ veröffentlicht.

Auch wenn das Buch beispielhaft zeigen soll, wie der Nationalsozialismus den Alltag, die Politik und die Gesellschaft einer Kleinstadt durchdrang, herrschten damals in der Salamanderstadt doch eher untypische Bedingungen. Einerseits verzehnfachte sich die Bevölkerung zwischen 1900 und 1950 nahezu, was, wie der Geschichtsprofessor schreibt, „eine Stadtgemeinschaft durcheinanderbringt“. Die Industrialisierung und die vielen Arbeiter, die Salamander, Stotz oder die Reichsbahn nach Kornwestheim brachten, führten zur Verunsicherung der Bürger: Einstige Verwandtschaftsbeziehungen zählten im politischen Feld nicht mehr, statt Honoratioren saßen nun gewählte Räte im Kommunalparlament, und zwar mehrheitlich Sozialdemokraten. Querelen um den Bürgermeister Theodor Steimle, den die Bürger dreimal in Folge wählten, dessen Wahl das Innenministerium aber nicht anerkannte, brachten eine zusätzliche Destabilisierung.

Türen für die NS-Ideologie waren weit offen

Diese und weitere Faktoren bereiteten den Nährboden für die braune Bewegung: „Die NSDAP war letztlich nur Trittbrettfahrerin einer Auseinanderentwicklung der örtlichen politischen Kräfte“, schreibt der Historiker, und das vor dem Tableau einer sich „rapide zuspitzenden ökonomischen und politischen Situation“, in der viele die Demokratie nicht mehr für handlungsfähig hielten. In den kleinstädtischen Strukturen waren viele Türen weit offen dafür, eigene Traditionen und Wertmuster in die neue Ideologie einzubetten.

Das Kornwestheimer Gesicht des Nationalsozialismus war der Lehrer Otto Trefz, der seit 1922 NSDAP-Mitglied war. Er zog als NSDAP-Spitzenkandidat in den Gemeinderat, war aber als „Reingeschmeckter“ ins lokale Gefüge eigentlich nicht eingebunden – was es ihm ermöglichte, rücksichtloser zu agieren und die NSDAP als Anti-Establishment-Partei zu stilisieren.

Nach der Machtergreifung schlug für Trefz in der Stadt, in der die NSDAP bei den Wahlen immer um einige Prozentpunkte schlechter abgeschnitten hatte als im Land und im Reich, die große Stunde: Er wurde NSDAP-Ortsgruppenleiter, später Kreisleiter. Bereits im August 1933 saßen nur noch Nazis im Gemeinderat, die KPD und die SPD wurden aufgelöst, ihnen verbundene Vereine und Organisationen zerschlagen, Funktionäre verhaftet. Doch auch die Arbeiterkolonnen des einst so roten Kornwestheim marschierten beim von der NS-Ideologie überformten Umzug zum Tag der Arbeit am 1. Mai mit durch die Stadt.

Gleichschaltung im rasanten Tempo

Der Stuttgarter Rechts- und Staatswissenschaftler Alfred Kercher, der vom bürgerlichen Lager elastisch in die NSDAP gewechselt war und seit der Steimle-Affäre als Amtsverweser agiert hatte, war unterdessen als Bürgermeister eingesetzt worden. Beim Festakt bekannte er, Otto Trefz habe nicht nur ihm den Weg geebnet, sondern auch „dem Großteil der Bürgerschaft den Glauben und das unbedingte Vertrauen an die nationalsozialistische Staatsidee geschenkt und neu gefestigt zum Segen für unsere Stadt“. Kerchers Vorgänger Friedrich Siller skandierte: „Heil Hitler, Heil Kercher!“ Später stilisierte sich Kercher als NS-Gegner.

Alfred Kercher als umstrittene Person

Geradezu erschütternd liest es sich, wie sich die Stadt und ihre Institutionen binnen dreier Monate quasi selbst gleichschalteten und viele Vereine unter pathetischen Bekundungen ihr Fähnlein in den Wind hängten. „Kleinstädtisch-kommunale Werthaltungen und Mentalitäten gingen eine Mesalliance ein mit dem vagen politischen Ideenhaushalt der NS-Diktatur, so dass sich eine tendenziell offene und breit anschlussfähige Variante des Nationalsozialismus entwickelte“, schreibt Großbölting.

Seilschaften und Katzenbuckelei

Wie die Stadt in diesem Fahrwasser und weitgehend ungestört von Widerstandshandlungen prosperierte, wie sie ihr neues Rathaus baute, wie sie dann die Mobilisierung, den Krieg und schließlich den Zusammenbruch erlebte, schildert das Buch. Aber es beschreibt auch, wie Kercher danach meinte, mit ein paar sozialdemokratischen Stadräten von früher nahtlos an die Zeit vor 1933 anknüpfen zu können – und wie ihm seine Selbstdarstellung im Entnazifizierungsprozess sowie viele Unterstützer den Weg zur späteren Wiederwahl ebneten. Otto Trefz fasste durch alte Seilschaften und Katzbuckelei wieder im Schuldienst Fuß. Als das Staatsministerium ihm seine Pension zusicherte, titulierte ihn der Sachbearbeiter 1958 gar mit „lieber Kamerad“. „Als ich das las, bin ich fast vom Stuhl gefallen“, sagt Großbölting.

Viel mehr Material, als er im Buch aufgearbeitet hat, stellte der Historiker der Stadt als Quellensammlung bereit: Was er in Archiven zu Kornwestheim im Forschungszeitraum fand, steht nun in Datenbanken, auf die Interessierte vom Stadtarchiv aus zugreifen können.

Kercher als „bürgerlicher Transformator“ des Nationalsozialismus

Die Rolle Kerchers thematisierten auch die Zuhörer einer Lesung von Thomas Großbölting. „Er war ein Chamäleon der Macht. Er fuhr auf dem NS-Ticket ins Bürgermeisteramt und nutzte das System für seine Karriere. Er balancierte und kanalisierte Konflikte so, dass sich in Kornwestheim ein Leben mit dem Nationalsozialismus führen ließ, das weitgehend kollisionsfrei war“, so der Wissenschaftler. Kercher sei der „bürgerliche Transformator“ des Nationalsozialismus gewesen.

Die Frage, ob Kercher nicht dennoch das kleinere Übel gewesen sei, beantwortete der Historiker mit einem klaren „Nein“: „Die Diktatur funktionierte nur, weil auch Menschen, die nicht zu 100 Prozent mit dem nationalsozialistischen Gedankengut übereinstimmten, sie getragen haben“, sagte er. Und diese Menschen seien aus der Mitte der Gesellschaft gekommen.