Kuriose Anekdoten, verdrängte Stuttgarter Geschichte: Das Wilhelmspalais hat schon viel mitgemacht. Ein lesenswertes Buch rollt die wechselvolle Historie des Prachtbaus auf.
Stuttgart - Der Mann bekam sogar persönlich von Adolf Hitler die Hand geschüttelt. Dabei war Martin Epp eigentlich nur Hausmeister im Wilhelmspalais. Als 1936 das „Volksmuseum der Auslanddeutschen“ eröffnet wurde, fand ein großer Propagandafeldzug statt, bei dem „Volksdeutsche“ in Trachten aufmarschierten. Da in Stuttgart keine Donauschwaben aus der Batschka aufzutreiben waren, schlüpfte der Hausmeister kurzerhand in eine Tracht, die man schnell für ihn geschneidert hatte – und wurde freudig von Hitler begrüßt.
Es war ein ungewöhnliches Leben, das die Hausmeisterfamilie im Wilhelmspalais führte. Die Dienstwohnung befand sich im zweiten Obergeschoss des Palastes, vom Schlafzimmer aus ging es direkt zum Festsaal, dessen Fenster zugemauert waren. Auf dem Korridor spielten Vater und Sohn Fußball, für die langen Wege im Haus nutzten die Kinder gern Fahrräder. Es sei eine „unglaublich fröhliche Jugend“ gewesen, berichten Epps Kinder in einem frisch erschienenen Buch, das auch mit kuriosen und verdrängten Geschichten rund um das Gebäude am Charlottenplatz aufwartet. „Das Wilhelmspalais. Von der königlichen Residenz zum Museum für Stuttgart“ nennt sich das schwere Buch aus der Avedition Stuttgart.
Stuttgart mausert sich im Nationalsozialismus zur „Stadt der Auslandsdeutschen“
Edith Neumann, die Kuratorin am Stadtpalais ist, hat das Buch herausgegeben, das in kurzen, gut lesbaren Kapiteln viel Stadtgeschichte erzählt und auch daran erinnert, dass das Wilhelmspalais im Dritten Reich schon einmal als Museum genutzt wurde. Denn 1936 richtete das Deutsche Auslands-Institut, der Vorläufer des heutigen Instituts für Auslandsbeziehungen, in dem Palast eine Dauerausstellung ein zum „Auslanddeutschtum“. Man wollte die Gebiete im Ausland vorstellen, in denen die so genannten „Volksdeutschen“ lebten und zeigte entsprechend Wohnstuben aus Tirol, dem Elsass oder dem Banat, die hübsch illuminiert wurden. Die Geschichte der deutschen Kolonien wurde ebenso verhandelt wie die Leistung der Deutschen im Ausland – unter anderem mit einem riesigen Modell der Brooklyn Bridge. Die Objekte wurden im Keller gefertigt.
Das Museum sollte nicht etwa „einer Bereicherung des Wissens“ dienen, sondern „zu gesamtvölkischem Denken“ erziehen. Gleichzeitig wollte die Stadt sich mit dem „Ehrenmal“ profilieren. Berlin eröffnete im gleichen Jahr die Olympischen Spiele, in Nürnberg fand der Reichsparteitag statt. Und Stuttgart wurde nun zur „Stadt der Auslanddeutschen“.
Der Architekt wird entlassen, als im Schloss Rosenstein der Hausschwamm entdeckt wird
Fast 200 Jahre hat das Wilhelmspalais inzwischen auf dem Buckel, das von 1834 bis 1840 nach Plänen von Giovanni Salucci erbaut wurde. Der württembergische König Wilhelm I hatte den Italiener 1818 zum Hofbaumeister gemacht, auch wenn er bis dahin nicht weiter aufgefallen war. Salucci baute auch die Grabkapelle auf dem Rotenberg und das heutige Schloss Rosenstein, wo allerdings 1839 der Hausschwamm entdeckt wurde. Das kostete den Hofbaumeister den Job.
In den Wilhelmspalast zog die älteste Tochter des Königs mit ihrem Mann ein: Marie Gräfin von Neipperg. Die beiden lebten nicht luxuriös, aber modern mit fließendem Wasser in der Küche, Blitzableiter und zahlreichen Öfen. Als die Gräfin 1887 starb, erbte ihr Großneffe Wilhelm, der spätere König, das Gebäude und tat, was bei Mieterwechseln üblich ist. Es wurde kräftig umgeräumt und Neues angeschafft. Bilder wanderten ins Schloss Rosenstein, dafür kam die „Psyche“, eine Marmorfigur des Bildhauers Johann Heinrich Dannecker, ins Haus.
Der König Wilhelm II lädt gern die Stuttgarter Prominenz zum Abendessen ein
Wilhelm II sei kein großer Redner gewesen, schreibt Edith Neumann, öffentliche Auftritte seien seine Sache nicht gewesen, weshalb er lieber daheim im kleinen Kreis politische Gespräche führte. Er lud oft Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ein, Ärzte und Geistliche, Wissenschaftler und Kunstprofessoren. Ein Lieblingslied, das sich der König oft bei geselligen Abenden wünschte, lautete „Möchte mich berauschen, nicht mit Fürsten tauschen, und im Wahne selbst nicht König sein“. Auch die Verwandtschaft kam häufig zu Besuch samt Hofdamen und Kammerherren, Kindermädchen und Lakaien. Offizielle Gäste des Königreiches wie Prinz Ludwig von Bayern, der 1913 nach Stuttgart kam, wohnten vis à vis im Neuen Schloss.
Der 9. November 1918 war sicher der dramatischste Tag für das Wilhelmspalais. Nach tagelangen Demonstrationen der Arbeiter drangen Aufständische ins Wilhelmspalais ein, hissten auf dem Dach eine rote Fahne – und der König notierte: „Unter der rothen Flagge war unsres Bleibens nicht mehr, und wir verließen für immer mein Heim“.
Das Marmorbad wird zerschlagen und die Stofftapete abgerissen
Der Hausmeister Martin Epp hat noch miterlebt, wie das Wilhelmspalais geräumt wurde, das stattliche Marmorbad zerschlagen und die exquisite Stofftapete heruntergerissen, um die Ausstellung zum „Auslanddeutschtum“ einzurichten. Allzu begeistert scheinen die Stuttgarter aber nicht von ihrem neuen Museum gewesen zu sein, das Haus wurde vor allem von offiziellen Delegationen besucht. 1943 wurde der Betrieb eingestellt. Als das Wilhelmspalais 1944 nach einem Luftangriff ausbrannte, wurden viele der Ausstellungsstücke zerstört.
Das Kapitel, das folgt, ist inzwischen auch schon abgeschlossen: 1962 wurde mit dem Wiederaufbau begonnen nach Plänen von Wilhelm Tiedje und der Innenarchitektin Herta-Maria Witzemann. Die Bücherei, die damals einzog, ist längst hinter den Hauptbahnhof gewandert – sodass sich das Buch zu guter Letzt dem Stadtpalais widmet, wie sich inzwischen das Museum für Stadtgeschichte nennt. En passant erzählen zahlreiche Fotografien, wie sich nicht nur die Mode im Lauf der Jahrhunderte geändert hat, sondern auch die Gesellschaft. Dort, wo sich einst der Adel in eleganten Roben und mit militärischem Schick präsentierte, lümmelt heute das Volk mit Bier in der Hand.