Isländische Fjordlandschaften, Eis und ein ländliches Dorf bilden die Kulisse für Hallgrímur Helgasons Roman. Foto: imago images/Cavan Images

In seinem Roman „60 Kilo Sonnenschein“ erzählt Hallgrímur Helgason mit Skurrilitäten gespickt vom Erwachen Islands aus einer überholten Zeit. Nun ist das Buch auch auf Deutsch erschienen.

Stuttgart - Keine Frage, der Isländer Hallgrímur Helgason zählt zu den originellsten europäischen Erzählern und fackelt in fast jedem seiner Bücher ein Feuerwerk an Skurrilitäten ab. Seitdem ihm vor über zwanzig Jahren mit „101 Reykjavík“ der Durchbruch gelang, hat er eine Vielzahl von brillanten Romanen vorgelegt, für die er bereits zweimal mit dem Isländischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Zuletzt 2018 für „60 Kilo Sonnenschein“, das nun in der bewährt sprachmächtigen Übersetzung Karl-Ludwig Wetzigs auf Deutsch erscheint.

Vorgenommen hat sich Helgason diesmal viel. Er breitet nicht nur die ersten fünfzehn Lebensjahre des in den 1880er Jahren geboren Gestur aus, sondern zugleich die Geschichte des erwachenden Islands, das um 1900 wohl oder übel den Weg in die Moderne einzuschlagen hat. Schauplatz ist eine kleine Siedlung am Rande des (fiktiven) Segulfjörður, einer abgelegenen Fjordlandschaft, die keinerlei Attraktionen aufweist. Schafe bevölkern den kargen Boden, wohin das Auge reicht, die Männer sprechen dem Alkohol freudig zu, die Frauen stricken, und wer partout etwas erleben möchte, sieht dem „Eisberg beim Schmelzen“ zu.

Skurriles in der ländlichen Männerwelt

Vor diesem Hintergrund eines Landes, dessen Bewohner ihre Rückständigkeit lieber pflegen als beklagen, wächst der kleine Gestur unter widrigen Umständen auf. Sein leiblicher Vater Eilífur kommt ums Leben, und als er sich bei seinem Ziehvater, Kaufmann Kopp, wohlzufühlen beginnt, verabschiedet sich dieser ohne ein Wort der Erklärung. Gestur wächst nun bei dem alten Lási auf, seinem dritten Vater gewissermaßen, und hat wie seine Altersgenossen darunter zu leiden, dass in seiner Heimat die Zukunft keine Rolle spielt und ein Tag so eintönig wie der andere verläuft.

Helgason versteht sich vorzüglich darauf, eigenwillige Charaktere zu zeichnen, die erbarmenswürdige Existenz der Fjordanwohner schonungslos derb zu schildern und zuhauf Szenen von großer Komik zu entwerfen. Zu den wenigen Honoratioren, die das Dorf am Fjord aufweist, zählt traditionsgemäß der Pfarrer. Altpfarrer Séra Jón ist jedoch ein Trunkenbold vor dem Herrn, der seine Predigten verschlampt und während des Gottesdienstes unter dem Altar ein Nickerchen hält. Seine Gemeinde ist solche Eskapaden gewöhnt, doch als der Pfarrer bei der Beerdigung von Gesturs Mutter ins Grab stürzt und zu Tode kommt, schlagen die Wellen hoch.

Mit den Norwegern kommt der Kapitalismus ins Dorf

Immerhin bringt es dieses Unglück mit sich, dass ein neuer Pfarrer, der attraktive Séra Árni, in die Siedlung kommt. Der erweist sich als Glückstreffer, zumal er bald die schöne Vigdís, eine Städterin, heiratet. Er kommt sogar damit zurecht, dass ein Sturm die Kirche wegweht, und der Pfarrer fortan seinen Beruf ausüben muss, ohne ein Gotteshaus zu besitzen. Árnis Ankunft kündigt zaghaft eine Veränderung an, doch zur entscheidenden Zäsur am Segulfjörður kommt es erst, als die mit den Wassern des Kapitalismus gewaschenen Norweger diese Ecke Islands entdecken.

Über die Zurückgebliebenheit des isländischen Völkchens staunend, verändern die Norweger nicht nur den Kleidungsstil der Einheimischen und bringen diesen die Segnungen des Gummistiefels nahe, sondern zeigen ihnen auch, womit sich Geld verdienen lässt. Der Hering ist es, der das Leben der Isländer von Grund auf verändert – ein Fisch, den man über Jahrhunderte hinweg tief verachtete. Die findigen norwegischen Fischer jedoch wissen, wie sich mit Heringsschwärmen Reichtum erwirtschaften lässt. Die Fische werden – „als würde der Sonnenschein selbst an Land geschafft“ – ausgenommen und eingesalzen in Fässern gelagert. Dankbar über jede Abwechslung nehmen die Einheimischen die Arbeit an, und als die Mägde und Knechte dafür erstmals in ihrem Leben mit ihnen unbekannten Banknoten entlohnt werden, hält der (vermeintliche) Fortschritt Einzug.

Brücke zum Island von heute

Helgasons „60 Kilo Sonnenschein“ entwirft ein Großpanorama von einem Land, das aus seinem Winterschlaf erwacht. Dass der Roman überdies schön-bittere Liebesgeschichten parat hält und davon berichtet, wie Gestur in der Literatur eine Welt findet, die ihn Schafe und Heringe vergessen lässt, macht ihn umso lesenswerter. Und en passant stellt der Autor die Frage, welchen Segen der Fortschritt wirklich bringt. Seit dem Siegeszug der Heringe und der norwegischen Nachhilfestunden hat sich in Island – das steht außer Frage – viel getan. Und manchmal lässt sich sogar eine Brücke zum heutigen Inselleben schlagen: „Daraus entwickelte sich die bis heute gepflegte isländische Geschäftspraxis, so wenig wie möglich für so viel wie möglich zu verkaufen.“

Infos Zum Buch: Hallgrímur Helgason: 60 Kilo Sonnenschein.
Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Tropen. 567 Seiten, 25 Euro.