Das Familienunternehmen beschäftigt gut 2100 Mitarbeiter, die meisten am Stammsitz in Ravensburg. Im Bild: die Produktion von Schneewittchen-Puzzle-Kartons Foto: Ravensburger

Der Kinderbuch- und Spiele-Verlag will unter seinem neuen Chef Clemens Maier digitaler und internationaler werden und nimmt dabei vor allem Großbritannien und die USA ins Visier – schielt aber auch nach China. In den Standort Ravensburg soll ebenfalls kräftig investiert werden.

Ravensburg - Oberschwaben kann im Herbst unheimlich nebelig sein. An einem Tag im Oktober könnte die Sicht kaum klarer sein. Herbstsonne lockt viele Mitarbeiter auf die Terrasse des Betriebsrestaurants. Clemens Maier, der junge Chef des Kinderbuch- und Spieleverlags, kommt vom seinem Büro im vierten Stock des Verwaltungstrakts herunter, um den Gast persönlich in Empfang zu nehmen. Von hier sind es nur ein paar Schritte zum 1974 eröffneten Produktions- und Logistikgebäude. Hier treffen Tradition und Zukunft von Ravensburger aufeinander.

Im Obergeschoss des Produktionsgebäudes wird analoges mit digitalem Wissen verschmolzen. Wo bis vor zwei Jahren noch die alte Betriebskantine war, ist heute der Innovations-Campus untergebracht. Es herrscht die typische Gründeratmosphäre: Zwischen Palettentischen, bunten Pinnwänden und lässigen Sitzsäcken brüten überwiegend junge Mitarbeiter über ganz neue Produkte oder neuen Ideen für alte Produkte, etwa den Kinderbuchklassiker „Wieso? Weshalb? Warum?“. Erste Erfolge der interdisziplinären Zusammenarbeit seien bereits sichtbar: So habe eine Mitarbeiterin aus dem Service die Produktmanager darauf gestoßen, wie viele Leute wegen dem digitalen Lernstift Tiptoi täglich anriefen, und „wie man mit denen besser zusammenarbeiten und sie besser verstehen kann“, erläutert Maier.

Analoge und digitale Kompetenzen werden gebündelt

Die neue Welt, in die er das Familienunternehmen führt, soll vor allem internationaler und digitaler sein. Das hat der 46-jährige Urenkel des Firmengründers Otto Maier bei seinem Antritt als Vorstandschef im April besonders betont. Analoge und digitale Kompetenzen, egal ob in der Produktentwicklung, im Vertrieb oder in der Vermarktung, werden nun gebündelt. „Wer für ‚Das verrückte Labyrinth’ als Brettspiel verantwortlich ist, ist es auch für das digitale Labyrinth“, erklärt Maier. Der Produktmanager hole sich dann digitale Kompetenz von Kollegen hinzu, die wissen, wie solche Produkte gebaut und in die App-Stores gebracht werden. Wie digital die Spielware der Zukunft sein wird, kann auch Maier nicht vorhersehen. Er hält kurz inne und sagt schließlich: „In der klassischen Welt verdienen wir gutes Geld. Es wäre fahrlässig, nur weil diese Märkte gerade ganz gut laufen, nicht ins Digitale zu investieren. Aber genauso falsch wäre es zu sagen, das haptische Spielzeug wird irgendwann keine Rolle mehr spielen und wir setzen nur noch aufs Digitale.“

Eine Etage tiefer rattern nicht die Hirne, sondern die Stanzmaschinen. Hier werden täglich Millionen winziger Puzzleteile produziert. Fertigungsleiter Günter Märker überprüft gerade mit Kollegen vom Betriebsrat und dem Betriebsarzt Maschinen auf ihre Sicherheit. „Arbeitsschutz ist wichtig“, sagt Märker, der seit 20 Jahren dabei ist. Bei der kurzen Begegnung wird deutlich, was das Unternehmen neben findigen Entwicklern groß gemacht hat: gründliche und fleißige Macher.

Auch der junge Clemens Maier hat schon während der Schulferien Kisten in der Produktion gepackt und nach Feierabend auf dem Firmenhof das Autofahren geübt, verrät er heute. Die damaligen Chefs, sein Vater Otto Julius Maierund seine Tante Dorothee Hess-Maier, durften davon freilich nichts mitbekommen. Nach dem Abitur lebte Maier 15 Jahre im Ausland, studierte in London Volkswirtschaft und Literatur, stieg beim Kinderkanal Nickelodeon ins Berufsleben ein und landete schließlich bei Random House in New York. „Ich hatte weiß Gott nicht permanent die Frage im Kopf: Wann fange ich bei Ravensburger an.“ 2005 war es dann soweit – zunächst leitete er die spanische Tochter, „1000 Kilometer von Ravensburg entfernt“, wie der Vater von drei Kindern sagt.

1883 gegründetes Unternehmen ist bis heute in Familienhand

Drei Jahre später hat er „auf der dritten Hierarchieebene“ in Ravensburg angefangen, auch darauf legt er wert. Schon damals habe Maier immer wieder samstags in der Produktion reingeschaut, um den Kontakt zu den Beschäftigten zu suchen, erinnert sich Fertigungsleiter Günter Märker. Seinen Chef beschreibt er als „menschlich“. Maier selbst sagt, ein kollegialer Stil sei ihm wichtig. „Es ist ein hoher Wert, nicht nur über Hierarchie zu führen, sondern vor allem über die Sache zu diskutieren.“ Es immer allen Recht machen, funktioniere aber weder in der Familie, noch im Unternehmen. Allerdings kann er sich auch nach längerem Überlegen nicht an einen ernsthaften Krach unter den derzeit acht Familienmitgliedern erinnern, in deren Hand das im Jahre 1883 gegründete Unternehmen heute ist. Es gebe niemanden, der besonders hohe Ansprüche an das Unternehmen formuliere.

Auch im Anspruch, international einen Sprung zu machen, ist sich die Familie einig. Dabei sieht Maier vor allem in den USA, aber auch in europäischen Märkten wie Großbritannien große Wachstumschancen. Zukäufe wie der US-Spieleentwickler Wonder Forge (2012) und Thinkfun (2017) sowie des schwedischen Holzeisenbahnbauers Brio (2015) oder die jüngste Beteiligung am britischen Kinderbuchverlag Wonderbly sind Belege dafür.

Großes Wachstumspotenzial im britischen Spielemarkt

Doch nicht nur über Zukäufe, sondern auch durch die Erschließung neuer Märkte für die eigenen Produkte will Maier weiter wachsen. „In Deutschland haben wir einen Marktanteil bei Spielen von 23 Prozent, in Großbritannien – einem noch größeren Spielwarenmarkt – erst 2,3 Prozent.“ Maiers Strategie sieht vor, Neuheiten künftig von vornherein für den internationalen Markt zu entwickeln. So wie bei der Kugelbahn Gravitrax, die gerade in den deutschen Spielwarenhandel kommt und ab kommendem Jahr international vertrieben werden soll. Neue Produkte würden laut Maier „immer vom Kunden aus entwickelt“. Wie groß diese Herausforderung ist, verdeutlichen zwei aktuelle Trends: Während Kinder immer früher mit digitalen Geräten wie Tablet oder Smartphone in Kontakt kommen, entdecken erwachsene Amerikaner und Europäer ihre Leidenschaft für klassische Brettspiele und leben diese in öffentlichen Spielecafés aus.

Auf der anderen Seite der Welt, in China, suchen markenbewusste Eltern vernünftige Lernspielzeuge für den Nachwuchs. Dabei könnten sie schon bald auf die oberschwäbische Traditionsmarke mit dem blauen Dreieck stoßen. Man sammle „erste wertvolle Erfahrungen“ im chinesischen Markt, so Maier. Die Vertriebsstrategie verlaufe zweigleisig: Einmal über einen klassischen Distributor und neuerdings auch über einen weiteren – der Produkte über das soziale Netzwerk We Chat nicht nur bewirbt, sondern auch gleich verkauft.

Umsatzplus erwartet

Insgesamt steuert Ravensburger im laufenden Jahr auf ein leichtes Umsatzplus zu: Zum Stand Ende September habe das Wachstum ungefähr auf dem Niveau des gesamten deutschen Spielwarenmarktes gelegen, etwa zwei Prozent über dem Vorjahr, sagt Clemens Maier. Doch erst die nächsten Wochen seien für das Gesamtjahr entscheidend. „Das Weihnachtsgeschäft sind die Wochen zum Nervöswerden.“ Im vergangenen Jahr hatte Ravensburger seinen Umsatz um 6,6 Prozent auf 473 Millionen Euro gesteigert.

Investitionen in den Standort Ravensburg

Seine Investitionen hat das Familienunternehmen zuletzt deutlich aufgestockt: Im vorigen Jahr flossen rund 22 Millionen Euro vor allem in den Ausbau der beiden Produktionsstandorte am Stammsitz in Oberschwaben und im tschechischen Policka. In den Jahren davor investierte man ungefähr acht Millionen Euro. Maier kündigt an, dass die Investitionen in den kommenden Jahren „relativ hoch“ gehalten würden: „Wir sind bereit, zu investieren. Auch zulasten des Ergebnisses.“ Dabei sieht er „den größten Nachholbedarf“ am Firmensitz in Ravensburg – dem „wichtigsten Logistikstandort“ für den europäischen Markt.